Kulturelle Vielfalt deutscher Literatur, Sprache und ... - SUB Göttingen
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Hans Thill<br />
Juri Andruchowytsch <strong>und</strong> ich wurden uns schnell einig: Er würde mir eine Auswahl<br />
vorschlagen. Sie sollte repräsentativ sein, soweit das in der Beschränkung auf<br />
sechs Personen möglich wäre: in Hinsicht auf Geschlecht, Herkunft, Verhältnis<br />
zur literarischen Tradition. Ich würde mich bemühen, möglichst prominente Übersetzer<br />
zu finden, um der Poesie der Ukraine eine breite Öffentlichkeit zu erschließen.<br />
Durch den Glücksfall einer fre<strong>und</strong>schaftlichen Zusammenarbeit konnte das<br />
Projekt realisiert werden. Mit seiner intimen Kenntnis der Szene <strong>und</strong> seinem Einfluss<br />
auf sie konnte Andruchowytsch eine Auswahl präsentieren wie sie kein Experte<br />
zustande gebracht hätte. Die sonst üblichen Probleme, dass man als Leiter<br />
des Projekts die Gäste erst einmal überzeugen muss, die Einladung anzunehmen,<br />
traten hier nicht auf. Mit der temperamentvollen Emma Andijewska, der sensiblen<br />
Natalka Bielozerkiwez, dem kraftvoll naturmystischen Oleh Lysheha, dem frechen<br />
Andrij Bondar, dem kämpferisch-surrealen Serhij Zhadan <strong>und</strong> dem ironischwitzigen<br />
Juri Andruchowytsch selbst hatten wir ein breites Spektrum an Stimmen<br />
<strong>und</strong> Gesichtern zu bieten.<br />
Herta Müller <strong>und</strong> Oskar Pastior hatten im Vorjahr zusammen mit Ernest<br />
Wichner eine Reise ins ost-ukrainische Kohlerevier unternommen, wo Pastior als<br />
Heranwachsender Zwangsarbeit hatte leisten müssen. Beide waren gern bereit,<br />
teilzunehmen. Mit Joachim Sartorius war der Diplomat unter den Lyrikern gewonnen,<br />
Michael Donhauser als Vertreter eines neuen pathetischen Tons versprach<br />
interessante Kontraste, alle vier zeichneten sich durch ein hohes internationales<br />
Renommee aus, Anja Utler wurde mir als junges Talent mit einem feinen Gehör<br />
empfohlen.<br />
Ebenfalls ungewohnt war die Aufteilung der philologischen Begleitung in Petro<br />
Rychlo aus Czernowitz <strong>und</strong> die in Heidelberg lebende Stefanija Ptashnyk. Es<br />
waren vor allem organisatorische Gründe, die mich diese Entscheidung treffen<br />
ließen. Wichtig war aber auch, die mittlere <strong>und</strong> die jüngere Generation der <strong>Literatur</strong>wissenschaft<br />
zu beteiligen.<br />
Das Ergebnis dieser Arbeitswoche kann in der Anthologie „Vorwärts, ihr<br />
Kampfschildkröten“ besichtigt werden, die Übersetzungen sind für den Kenner<br />
überprüfbar, denn das ukrainische Original ist ebenfalls abgedruckt. Außerdem<br />
zahlreiche Mehrfachübersetzungen desselben Gedichts. Herta Müller hatte ihre<br />
Versionen mit Schere <strong>und</strong> Klebstoff hergestellt, für jeden Gast eine Kollage aus<br />
Fragmenten der Interlinearversionen.<br />
Beispielhaft für die Mehrfachversionen mit ihren Unterschieden <strong>und</strong> Ähnlichkeiten,<br />
die gleichermaßen verblüffend sind, seien hier die Übersetzungen eines<br />
kurzen Gedichts von Emma Andijewska zitiert.