Kostenloser Download als PDF - Theologische Hochschule ...

DER KANON
weichen und machte +so, das Meer zum trockenen Land, und die Wasser teilten sich
(2. Mose 14,21 ElbÜ). In poetischer Sprache wird hier die Überzeugung von Gottes
persönlichem Eingreifen lebendig zum Ausdruck gebracht. Die Gläubigen sahen Gott
gewissermaßen tief Atem schöpfen und sie sangen: „Beim Schnauben deiner Nase
türmten sich die Wasser, die Strömungen standen wie ein Damm, die Fluten
gerannen im Herzen des Meeres.“ (2. Mose 15,8 ElbÜ)
Wenn wir den Vorgang der Kanonisierung betrachten, sollten wir als Gläubige
mehr als nur den natürlichen Prozeß erkennen. Können wir darin Gottes „Schnauben“
wahrnehmen, dann um so besser. Wenn ich Adventisten zuhöre, so stelle ich
fest, daß sie meist keine Mühe haben, in den ersten Stufen der Kanonbildung – also
bei der Offenbarung und Inspiration – das Wirken Gottes zu erkennen. Aber ich habe
den Eindruck, daß wir es lieber vermeiden, über die Schritte nachzudenken, die
Gottes Führung innerhalb der Gemeinde betreffen (Schritte 3 und 4).
Hier wird auch die Frage wichtig, die wir am Anfang dieses Kapitels gestellt
haben, weil sie uns dazu veranlaßt, über den ganzen Vorgang der Kanonbildung
nachzudenken. Es ist nicht umsonst zu fragen: „Würdet ihr einen neu entdeckten
Brief von Paulus in eure Bibeln aufnehmen?“ Katholiken haben ja auch die Apokryphen
als einen Zusatz in ihren Bibeln. Die Mormonen schließen weitere Bücher
ein. Sie geben sogar eine Ausgabe der Bibel heraus, die auch das Buch Mormon
sowie die Bücher Lehre und Bündnisse und Die köstliche Perle enthält. Würden
Adventisten mit einem neuen Paulusbrief ähnlich vorgehen? Oder mit ausgewählten
Schriften aus der Feder von Ellen White?
Zweifellos könnten wir durch einen Beschluß zusätzliche Briefe oder Bücher in
die Schrift aufnehmen. Ein derartiger Schritt würde uns aber als neuartige Gruppe
(Sekte) kennzeichnen, die ihrem protestantischen Erbe abgeschworen hat. Das Bekenntnis
„Die Bibel und nur die Bibel allein“ würde dann eine ganz andere Bedeutung
für uns erhalten. Obwohl wir überzeugt sind, daß Gott auch durch andere inspirierte
Stimmen reden kann, sollten wir es doch nicht zulassen, daß ihnen ein Platz
im biblischen Kanon eingeräumt wird.
In der Einleitung zum Buch Der große Kampf finden sich bedeutsame Aussagen
über den Kanon. Einerseits erwähnt Ellen White, daß Gott uns auf vielerlei Weise
ansprechen kann, nicht nur durch die Schrift; andererseits betont sie, daß die Schrift
eine Sonderstellung und absoluten Vorrang besitzt). Während der gesamten
biblischen Zeit hat der Heilige Geist, „abgesehen von den Offenbarungen, die dem
heiligen Buche hinzugefügt werden sollten“, immer wieder Botschaften gegeben.
Diese Botschaften standen „in keiner Beziehung zur Übermittlung der Heiligen
Schrift.“ Nach der Vollendung des Schriftkanons sollte der Geist dieses Werk
63