Jahresgutachten 2000/01 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Drucksache 14/4792 – 146 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode<br />
Folge haben, dass die Nominallohnsteigerungen die Produktivitätsgewinne<br />
übertreffen. Die Antizipation der Produktivitätsgewinne<br />
bewirkt zudem eine Erhöhung des erwarteten<br />
permanenten realen Arbeitseinkommens. Dies sowie die<br />
Beschleunigung der Nominallohnentwicklung dürften die<br />
Güternachfrage erhöhen, und es kommt zu zusätzlichem inflationären<br />
Druck.<br />
Während zu Beginn der Übergangsphase zum neuen<br />
Gleichgewicht die Notenbank bei simultan sinkender<br />
Inflationsrate und steigender Beschäftigung „in der besten<br />
aller Welten“ lebt, sollte sie dennoch antizipieren,<br />
dass es in der Folge zu einem steigenden Inflationsdruck<br />
kommt. Eine vorausschauende Geldpolitik wirkt<br />
diesem Inflationsdruck durch rechtzeitige Zinsschritte<br />
entgegen und passt die Volkswirtschaft so zugleich an<br />
den neuen – höheren – gleichgewichtigen Realzins an.<br />
243. Aufgrund der Wirkungsverzögerungen geldpolitischer<br />
Impulse muss die Zentralbank auf Veränderungen<br />
in der Volkswirtschaft, die auf zukünftige Inflationsrisiken<br />
hindeuten, reagieren. Die Outputlücke<br />
beispielsweise wird von der Notenbank in ihrem Entscheidungskalkül<br />
als Indikator inflationären Drucks<br />
verwendet. In empirischen Untersuchungen wird für die<br />
geschätzten Werte von Produktionspotential und Outputlücke<br />
eine nicht unerhebliche Streuung um ihre im<br />
nachhinein ermittelten tatsächlichen Werte festgestellt.<br />
Es kommt zu Fehlschätzungen, wenn die in den<br />
Schätzmodellen gebrauchten, ebenfalls nicht beobachtbaren<br />
Parameter inkorrekt bestimmt sind. Insbesondere<br />
strukturelle Veränderungen in der Volkswirtschaft können<br />
die Parameter beeinflussen. Mit zunehmender Unsicherheit<br />
verliert die Outputlücke als Signal für möglichen<br />
Inflationsdruck an Qualität. Die Zentralbank wird<br />
daher <strong>zur</strong> Ermittlung möglichen Inflationsdrucks weniger<br />
Gewicht auf die Outputlücke und mehr Gewicht auf<br />
die anderen (sichereren) Variablen legen.<br />
VI.EU-Osterweiterung – Die Voraussetzungen<br />
schaffen<br />
244. Nachdem die erste Gruppe osteuropäischer Beitrittsländer<br />
(Estland, Polen, Slowenien, Tschechien und<br />
Ungarn) seit November 1998 in konkrete Beitrittsverhandlungen<br />
eingetreten ist, verhandeln seit dem Februar<br />
dieses Jahres auch Litauen, Bulgarien, die Slowakei,<br />
Lettland und Rumänien offiziell über einen Beitritt<br />
<strong>zur</strong> Europäischen Union. Darüber hinaus werden Beitrittsverhandlungen<br />
mit Malta und Zypern geführt; ein<br />
weiterer Kandidat ist die Türkei. Geplant ist, dass ab<br />
dem Jahre 2003 die ersten osteuropäischen Länder in<br />
die Europäische Union aufgenommen werden.<br />
245. Die Osterweiterung der Europäischen Union<br />
wurde Anfang der Neunzigerjahre vorbereitet. Im<br />
Jahre 1993 verständigte sich der Europäische Rat darauf,<br />
den Beitritt eines Landes <strong>zur</strong> Europäischen Union<br />
an die Erfüllung bestimmter politischer und ökonomischer<br />
Kriterien zu knüpfen (Kopenhagener Kriterien),<br />
die nicht verhandelbar sind. Im Einzelnen wurden festgelegt:<br />
– Politische Kriterien: die Existenz von stabilen Institutionen,<br />
die Demokratie garantieren, die Menschenrechte<br />
und den Schutz von Minderheiten gewährleisten<br />
und die Rechtsstaatlichkeit sichern.<br />
– Ökonomische Kriterien: eine funktionierende<br />
Marktwirtschaft und die Fähigkeit der Volkswirtschaft,<br />
dem Wettbewerbsdruck innerhalb der Europäischen<br />
Union standzuhalten.<br />
– Juristische und institutionelle Kriterien: die Fähigkeit,<br />
den aus der Mitgliedschaft entstehenden Verpflichtungen<br />
nachzukommen. Dazu zählt vor allem<br />
die Übertragung des gemeinschaftlichen Besitzstands<br />
(Acquis Communautaire) in nationales<br />
Recht und die Schaffung der für seine Anwendung<br />
notwendigen Infrastruktur.<br />
246. Mit der anstehenden Osterweiterung ist die Europäische<br />
Union auch ihrerseits in der Pflicht, sich Reformen<br />
zu unterziehen, um bei einer gestiegenen Mitgliederzahl<br />
handlungsfähig zu bleiben. Zu diesem<br />
Zweck wurden im Rahmen der im vergangenen Jahr<br />
gefassten Berliner Beschlüsse Reformen in den Bereichen<br />
der Agrarpolitik und der Strukturpolitik verabschiedet<br />
(JG 99 Ziffern 83 ff.). Im Dezember dieses<br />
Jahres sollen auf der Konferenz der europäischen<br />
Staats- und Regierungschefs in Nizza grundlegende institutionelle<br />
Reformen der Europäischen Union beschlossen<br />
werden.<br />
Kriterien für die Aufnahme der<br />
Beitrittskandidaten<br />
247. Die Europäische Kommission prüft in dem „Bericht<br />
über die Fortschritte jedes Bewerberlandes auf<br />
dem Weg zum Beitritt“ regelmäßig den Stand der Erfüllung<br />
der Kopenhagener Kriterien. In ihrem Bericht<br />
vom Herbst <strong>2000</strong> kam sie zu dem Schluss, dass alle Bewerber<br />
die politischen Kriterien erfüllen.<br />
248. Die Errichtung einer marktwirtschaftlichen Ordnung<br />
– das erste der beiden ökonomischen Kriterien –<br />
wird danach bewertet, ob (1) die Koordination zwischen<br />
Angebot und Nachfrage durch das freie Spiel der Marktkräfte<br />
erreicht wird und die Preisbildung und der Handel<br />
liberalisiert sind, (2) keine nennenswerten Schranken für<br />
den Markteintritt und den Marktaustritt bestehen, (3) der<br />
notwendige Rechtsrahmen, einschließlich der Regelung<br />
der Eigentumsrechte, geschaffen und die Durchsetzung<br />
der Gesetze und Verträge gewährleistet ist, (4) der Finanzsektor<br />
ausreichend entwickelt ist, um die Ersparnis<br />
einer produktiven Verwendung zuzuführen, (5) makroökonomische<br />
Stabilität gewährleistet ist, insbesondere ein<br />
angemessenes Maß an Preisniveaustabilität, tragfähige<br />
öffentliche Finanzen und eine stabile außenwirtschaftliche<br />
Lage gegeben sind und (6) breiter Konsens über die<br />
Eckpunkte der Wirtschaftspolitik besteht.