Jahresgutachten 2000/01 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 241 – Drucksache 14/4792<br />
Interdependenzen zwischen beiden Faktoren ein besonderes Problem dar: Während einerseits Behandlungsinnovationen<br />
nicht selten zu einem Anstieg der Lebenserwartung führen, bewirkt auf der anderen Seite ein steigender<br />
Anteil älterer Menschen für sich genommen eine Ausweitung der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, was über<br />
die dann dem Gesundheitssektor vermehrt zufließenden Mittel in der Tendenz die Rate des medizinischtechnischen<br />
Fortschritts erhöhen kann.<br />
Je nach Annahmen über das Zusammenwirken von Alterung und medizinisch-technischem Fortschritt ergeben sich<br />
für die Zukunft deutlich unterschiedliche Gesundheitsausgaben im Alter und folglich auch unterschiedliche Projektionen<br />
hinsichtlich der Beitragssatzentwicklung. Besondere Aufmerksamkeit haben in diesem Zusammenhang zwei<br />
Studien erregt, die der Prognos AG und die eines Konstanzer/Greifswalder Forscherteams.<br />
In der Prognos-Studie wird eine einnahmeorientierte Ausgabenpolitik für die Zukunft unterstellt, das heißt, die<br />
Ausgaben werden über die prognostizierte Einnahmenentwicklung determiniert. Als Konsequenz daraus werden<br />
in zwei unterschiedlichen Szenarien der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung Zuwachsraten der Pro-Kopf-<br />
Ausgaben in einer Höhe von 0,9 vH und 1,4 vH bis zum Jahre 2040 fortgeschrieben. Die so auf der Basis der heutigen<br />
altersabhängigen Ausgabenprofile für die Zukunft errechneten Ausgaben werden dann auf die voraussichtliche<br />
Altersstruktur im Jahre 2040 projiziert. Mit dieser Methode ergibt sich für das Jahr 2040 ein Beitragssatz von<br />
15,4 vH beziehungsweise 15,9 vH. Die Differenz zum heutigen durchschnittlichen Beitragssatz von 13,6 vH drückt<br />
damit die Beitragssatzsteigerungen aus, die auch eine einnahmeorientierte Ausgabenpolitik aus Gründen der Verschiebung<br />
der Altersstruktur tolerieren würde. Kritisch anzumerken ist, dass mit diesem Vorgehen die komplexen<br />
Wirkungsbeziehungen zwischen Alterung und medizinisch-technischem Fortschritt nicht hinreichend berücksichtigt<br />
werden. Daten aus dem Risikostrukturausgleich deuten darauf hin, dass sich die altersspezifischen Ausgabenprofile<br />
eher versteilen und sich mithin eine Übertragung in Form einer linearen Fortschreibung der heutigen Profile<br />
in die Zukunft verbietet. Daher dürfte das Prognos AG -Vorgehen die aus der Alterung resultierende Ausgabenexpansion<br />
unterschätzen. Zudem ist die Annahme zukünftiger Steigerungen der Pro-Kopf-Ausgaben von unter 2 vH<br />
pro Jahr angesichts der Tatsache, dass im Zeitraum der Jahre 1970 bis 1998 die Ausgaben je Mitglied jahresdurchschnittlich<br />
mit 3 vH zunahmen, sehr niedrig angesetzt.<br />
Einen anderen Weg geht das Konstanzer/Greifswalder Forscherteam. In einer Regressionsanalyse werden die realen<br />
Pro-Kopf-Ausgaben im Wesentlichen erklärt durch die Entwicklung der realen Einnahmen pro Mitglied, einem<br />
Zeittrend als produktinnovatorischer Komponente des medizinisch-technischen Fortschritts sowie der Altersstruktur.<br />
Die Größe reale Einnahmen pro Mitglied lässt sich zum einen als Indikator für die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen<br />
interpretieren, zum anderen bildet sie auch den medizinisch-technischen Fortschritt als Prozessinnovation<br />
ab. Diese Dimension des technischen Fortschritts wird auch in der Prognos-Studie erfasst; hingegen ist<br />
ausgabensteigernder Fortschritt, der mit Produktinnovation einhergeht, per Annahme ausgeschaltet. Die Konstanzer/Greifswalder<br />
Studie zeigt, dass aufgrund dieses produkttechnischen Fortschritts die Gesundheitsausgaben im<br />
Mittel des Zeitraums 1970 bis 1995 mit 1 vH stärker zunahmen als die realen Einnahmen. Ferner konnten die beiden<br />
Forscher nachweisen, dass die Altersstruktur ebenfalls zu einem deutlichen Anstieg der Ausgaben führt:<br />
Nimmt der Anteil der Personen über 65 Jahre um 1 vH zu, steigen die Pro-Kopf-Ausgaben im Stichprobenmittel<br />
um rund 8 vH. Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass aufgrund der sehr groben Alterstrukturklassifizierung<br />
dieser Wert überzeichnet sein dürfte. Für das Jahr 2040 wird ein Anstieg des Beitragssatzes auf 23,1 vH prognostiziert.<br />
Beide Beitragssatzprognosen decken gewissermaßen die Extrempunkte der zukünftigen Beitragssatzentwicklung<br />
ab: Einmal eine Politik, die dafür sorgt, dass die Ausgaben sich nicht von den Einnahmen abkoppeln und dass die<br />
Beitragssätze nur aus demographischen Gründen angepasst werden; zum anderen eine Politik, die die Demographie<br />
und den medizinischen Fortschritt frei wirken lässt, wodurch die Beitragssatzentwicklung eine endogene Größe<br />
wird. Die sich ergebenden deutlichen Unterschiede in der langfristigen Beitragssatzentwicklung zeigen, wie sensitiv<br />
derartige Projektionen gegenüber den Annahmen bezüglich medizinisch-technischem Fortschritt, Alterung und<br />
den wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen beiden Variablen sind.<br />
471. Trotz des hohen Versicherungsgrades, der außerordentlich<br />
hohen Dichte an Ärzten, Krankenhausbetten<br />
und Geräten, der guten Arznei- und Heilmittelversorgung<br />
und der hohen Forschungsausgaben für Gesundheitstechnologien,<br />
nimmt das deutsche Gesundheitssystem<br />
– gemessen an medizinischen Indikatoren wie zum<br />
Beispiel an der versorgungsbedingten Frühsterblichkeit<br />
an Herzinfarkten, der (trotz verfügbarer Behandlungsstrategien)<br />
zunehmenden Sterblichkeit an Brustund<br />
Colonkrebs, Defiziten bei der Diabetesbehandlung<br />
oder der Schmerztherapie – im internationalen Vergleich<br />
keinen Spitzenplatz ein. Es ist nicht – wie oft behauptet<br />
– das „beste System der Welt“. Dies gilt umso<br />
mehr, wenn durch die Beibehaltung der sektoralen