Jahresgutachten 2000/01 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 221 – Drucksache 14/4792<br />
den kann, sie werden im Ergebnis diese Nachfrage eher<br />
schwächen. Ein innovativer Schritt nach vorne wird<br />
nicht getan, hier wird rückreguliert.<br />
Institutionelle Wege zu einer dezentraleren Lohnfindung<br />
433. Nicht nur die Veränderung der Arbeitswelt, die<br />
mit der Neuen Ökonomie einhergeht, wirft die Frage<br />
auf, inwieweit das Regelwerk für Arbeit, das sich im<br />
Wesentlichen unter den Bedingungen der Industriegesellschaft<br />
entwickelt hat, mit seinen umfassenden<br />
Branchentarifverträgen noch auf die neue wirtschaftliche<br />
Wirklichkeit der Informationsgesellschaft passt.<br />
Auch für die traditionelle Ökonomie stellt sich angesichts<br />
der schubweise angestiegenen Arbeitslosigkeit<br />
in den letzten dreißig Jahren das Problem, inwieweit<br />
die institutionellen Regelungen nicht systematisch<br />
falsch gesteuert haben und ob nicht stärker nach anderen<br />
institutionellen Wegen bei der Gestaltung von Arbeitsverträgen<br />
gesucht werden muss, die der Differenziertheit<br />
bei der Vielzahl der Arbeitnehmer und<br />
Unternehmen mehr Beachtung schenken und die es<br />
möglich machen, die hohe Arbeitslosigkeit <strong>zur</strong>ückzuführen.<br />
434. Völlig unbestritten ist, dass der Arbeitsmarkt institutionelle<br />
Regelungen braucht, sei es durch gesetzliche<br />
Normen, sei es durch explizite Vereinbarungen, sei<br />
es durch informelle Vorgehensweisen, die sich in der<br />
Praxis ergeben haben. Gründe hierfür sind zum einen<br />
die ökonomische Notwendigkeit, die Transaktionskosten<br />
in den Beziehungen zwischen den Unternehmen<br />
und den Arbeitnehmern, etwa durch die Standardisierung<br />
der Arbeitsverträge, niedrig zu halten und opportunistisches<br />
Verhalten auf beiden Seiten, wie es bei<br />
unvollkommenen Verträgen mit asymmetrischer Information<br />
vorkommt, einzuschränken. Zum anderen<br />
besteht aber auch zwingend das Erfordernis eines einheitlich<br />
geregelten Arbeitsschutzes und Gesundheitsschutzes.<br />
Um diese sinnvollen und notwendigen Regelungen<br />
geht es im Folgenden jedoch nicht; es geht um<br />
das Regelwerk für Arbeit nur insoweit, als die Lohnfindung<br />
betroffen ist.<br />
435. Historisch ist das Regelwerk für Arbeit mit der<br />
derzeitigen Form der Lohnbildung aus dem Schutzbedürfnis<br />
der Arbeitnehmer entstanden. Es sucht diesen<br />
Schutz durch Regelungen wie das Betriebsverfassungsgesetz,<br />
das Tarifvertragsgesetz und das Kündigungsschutzgesetz<br />
zu erreichen. Das entscheidende<br />
Problem ist jedoch, dass diese institutionellen Regelungen<br />
im Ergebnis die Arbeitslosen als Außenseiter<br />
benachteiligen (JG 99 Ziffer 354). Der Ordnungsrahmen<br />
einschließlich der üblichen Form der Lohnfindung<br />
schafft auch insgesamt keine hinreichenden Bedingungen<br />
dafür, dass die in einer konjunkturellen Schwächephase<br />
freigesetzten Arbeitnehmer wieder in die Beschäftigung<br />
finden. Vielmehr verhärtet sich die<br />
Arbeitslosigkeit; in diesem Jahr sind von Langzeitarbeitslosigkeit<br />
vermehrt auch jüngere Jahrgänge (schon<br />
ab 35 Jahren) betroffen. Menschen werden von einer<br />
sinnstiftenden Tätigkeit ausgeschlossen, sie verlieren<br />
in der Arbeitslosigkeit im Vergleich zu den Beschäftigten<br />
Kompetenz, eine wichtige volkswirtschaftliche<br />
Ressource liegt brach. Von daher ist das Regelwerk aus<br />
gesamtwirtschaftlicher Sicht zu überdenken, wenn das<br />
Ziel der Vollbeschäftigung ernst genommen wird.<br />
436. Um die schubweise angestiegene Arbeitslosigkeit<br />
zu verringern, sollte man angesichts der großen<br />
Vielfalt der unterschiedlichen Bedingungen in den Unternehmen<br />
einen größeren Spielraum für dezentrale<br />
Ansätze bei der Lohnfindung ins Auge fassen. Dies<br />
hilft zwar nicht über die Interessengegensätze zwischen<br />
den Beschäftigten im Betrieb und den arbeitslosen<br />
Außenseitern hinweg. Aber bei dezentralen Lösungen<br />
kann erwartet werden, dass das Lohnniveau in der<br />
Volkswirtschaft dadurch sinkt, dass Betriebe, deren<br />
Existenz beim herrschenden tarifvertraglichen Lohnniveau<br />
gefährdet wäre, von der Kostenseite her konkurrenzfähig<br />
bleiben. Gleichzeitig können neue Betriebe<br />
entstehen und damit neue Arbeitsplätze geschaffen<br />
werden. Zu denken ist an drei Wege: Lösungen im Rahmen<br />
des bestehenden Tarifvertragssystems, den Austritt<br />
aus den Verbänden und eine andere Gestaltung der<br />
institutionellen Regelungen durch den Gesetzgeber.<br />
437. Den ersten Weg können die Tarifvertragsparteien<br />
beschreiten, indem sie in den Flächentarifverträgen<br />
betriebsnähere Lohnvereinbarungen vorsehen.<br />
Dies kann durch Öffnungsklauseln für betriebliche Lösungen<br />
geschehen, die gemäß § 77 Absatz 3 Betriebsverfassungsgesetz<br />
(BetrVG) der Einwilligung der Tarifvertragsparteien<br />
bedürfen. Ein anderes Verfahren<br />
besteht in der Zustimmung zu leistungs- und ertragsabhängigen<br />
Entgeltbestandteilen, die den festgelegten<br />
Grundlohn ergänzen. Ein Beispiel für eine variable<br />
Einkommensgestaltung ist der Ergänzungstarifvertrag<br />
zwischen einer Tarifgemeinschaft von Dienstleistungsunternehmen<br />
(darunter die Debis AG) und der IG Metall,<br />
in dem vorgesehen ist, dass das jeweilige Jahreszieleinkommen<br />
um maximal 15 vH unterschritten<br />
werden kann. Zwar hat die Bereitschaft der Tarifvertragsparteien,<br />
insbesondere der Gewerkschaften, derartige<br />
Öffnungsklauseln oder variable Entgeltbestandteile<br />
zu akzeptieren, in jüngerer Zeit zugenommen.<br />
Insgesamt ist dieser Weg bisher nur zaghaft beschritten<br />
worden; von diesen Möglichkeiten sollte intensiver<br />
Gebrauch gemacht werden.<br />
438. In der Praxis hat der zweite Weg, nämlich der<br />
Austritt aus den Verbänden, eine erhebliche Bedeutung<br />
gefunden. Mittlerweile weichen Unternehmen der Tarifbindung<br />
aus, indem sie aus dem Arbeitgeberverband<br />
ausscheren, und zwar nicht nur in Ostdeutschland.<br />
Überdies werden in den Betrieben einvernehmlich Betriebsvereinbarungen<br />
zwischen Unternehmensleitung<br />
und Betriebsrat getroffen, obwohl sie in Branchentarifverträgen<br />
nicht vorgesehen sind und damit rechtlich<br />
unzulässig sind und es im Falle einer gerichtlichen