Jahresgutachten 2000/01 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Drucksache 14/4792 – 222 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode<br />
Überprüfung unsicher wäre, ob sie Bestand hätten; die<br />
Regelung des § 77 Absatz 3 BetrVG wird von Juristen<br />
als die am meisten missachtete Norm des deutschen<br />
Arbeitsrechts bezeichnet (JG 99 Ziffer 360). Das bestehende<br />
Regelwerk scheint sich in der Praxis nicht<br />
mehr so wie in der Vergangenheit zu bewähren.<br />
439. Der dritte Weg besteht darin, die im gesetzlichen<br />
Regelwerk für Arbeit enthaltenen Fehlanreize zu beheben<br />
(JG 99 Ziffern 356 ff.). Dabei geht es darum, durch<br />
eine andere Ausgestaltung der rechtlichen Regelungen<br />
die Beschäftigungschancen der Arbeitslosen zu verbessern:<br />
indem – unter anderem – Einsteigerverträge<br />
für Arbeitslose unterhalb des von den Tarifvertragsparteien<br />
vereinbarten Tarifs zugelassen werden und indem<br />
das Günstigkeitsprinzip durch gesetzliche Regelung<br />
dahin gehend interpretiert wird, dass die Sicherheit des<br />
Arbeitsplatzes in die Günstigkeitsabwägung explizit<br />
einzubeziehen ist.<br />
Nach wie vor umstritten ist die in § 77 Absatz 3 BetrVG<br />
festgelegte Unzulässigkeit von Betriebsvereinbarungen,<br />
soweit diese nicht im Tarifvertrag geregelt sind<br />
oder dort üblicherweise geregelt werden. Gleichwohl<br />
haben sich in der Praxis betriebliche Lösungen in<br />
großem Ausmaß durchgesetzt. Dazu zählen die Standortsicherungsverträge,<br />
bei denen die Belegschaft beispielsweise<br />
einer längeren Wochenarbeitszeit zustimmt<br />
und die Unternehmensleitung im Gegenzug<br />
eine Garantie für die Arbeitsplätze in der einen oder<br />
anderen Form gibt. Es handelt sich also um „effiziente“<br />
Arbeitsverträge (JG 95 Ziffer 387). Im Vordergrund<br />
standen dabei in den letzten Jahren überwiegend Fragen,<br />
die die Belegschaft insgesamt betrafen, wie etwa<br />
die Wochenarbeitszeit; implizit wurde stets auch das<br />
Entgelt mit einbezogen. Offenbar besteht in den Betrieben<br />
in einem beachtlichen Umfang eine Bereitschaft<br />
für dezentrale Lösungen; sonst hätten in den<br />
letzten Jahren viele Betriebsräte nicht einer vom Tarifvertrag<br />
abweichenden Betriebsvereinbarung zugestimmt.<br />
Man darf davon ausgehen, dass sie dies nicht<br />
gegen die Interessen der Belegschaft getan haben. Betriebsvereinbarungen<br />
haben sich in der Praxis bewährt.<br />
Es sollte deshalb Aufgabe des Gesetzgebers sein, eine<br />
Regelung herbeizuführen, nach der die bereits vielfach<br />
praktizierten und tauglichen Betriebsvereinbarungen<br />
rechtlich auch dann möglich sind, wenn solche Vereinbarungen<br />
von den Tarifvertragsparteien in den Tarifverträgen<br />
nicht vorgesehen werden.<br />
440. Ein Mitglied des Rates, Jürgen Kromphardt, hält<br />
es für geboten, die jetzige Regelung von § 77 Absatz 3<br />
BetrVG sowie die Interpretation des Günstigkeitsprinzips<br />
durch das Bundesarbeitsgericht beizubehalten und<br />
damit unverändert die Anwendung von Öffnungsklauseln<br />
bezüglich der Lohnhöhe an die Zustimmung der<br />
Tarifvertragsparteien zu binden. Diese werden ihre Zustimmung<br />
erteilen, wenn eine vorübergehende Notlage<br />
in einem Betrieb nachweisbar vorliegt oder wenn den<br />
Betrieb vorübergehende, von ihm nicht zu vertretende<br />
Standortnachteile belasten (Beispiel: Un<strong>zur</strong>eichende<br />
Infrastruktur in Ostdeutschland). Die Begrenzung auf<br />
solche Fälle verhindert, dass die Tarifsetzungsmacht<br />
der Tarifvertragsparteien ausgehöhlt und unterlaufen<br />
wird und damit die Vorteile der Flächentarifverträge<br />
verloren gehen: Die Arbeitgeber werden erstens vor<br />
dem Wettbewerb von Konkurrenten geschützt, die sich<br />
durch untertarifliche Bezahlung ihrer Arbeitskräfte<br />
Wettbewerbsvorteile verschaffen. Zweitens werden<br />
Lohnauseinandersetzungen aus den Betrieben herausgehalten,<br />
der Betriebsrat unterliegt einer Friedenspflicht<br />
und hat kein Recht zum Streik. Die Arbeitnehmer<br />
werden davor geschützt, dass ihr Arbeitgeber ihre<br />
schwächere Marktposition ausnutzt, um sie – zum Beispiel<br />
mit der Drohung von Betriebsschließung oder<br />
Produktionsverlagerung ins Ausland – zu Lohnzugeständnissen<br />
zu bringen.<br />
Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht droht, wenn die bestehenden<br />
rechtlichen Bremsen gelockert werden, die<br />
Gefahr – insbesondere bei hoher Arbeitslosigkeit –,<br />
dass die Lohnsenkung in den Unternehmen die konkurrierenden<br />
Betriebe ebenfalls zwingt, Lohnkürzungen<br />
durchzusetzen, sodass eine produktivitätsorientierte<br />
Lohnentwicklung verhindert wird. Dies aber<br />
würde, da Löhne Einkommen darstellen, die Beschäftigungsentwicklung<br />
von der Güternachfrageseite her<br />
belasten (JG 99 Ziffern 366 ff.).<br />
So weit die Meinung dieses Ratsmitglieds.<br />
IV. Die Gesetzliche Rentenversicherung:<br />
Vor einer durchgreifenden Reform<br />
Schritte in die richtige Richtung<br />
441. Nach einigen eher tastenden Versuchen, eine Alternative<br />
zum – ausgesetzten – „Rentenreformgesetz<br />
1999“ der früheren Bundesregierung zu formulieren, hat<br />
die jetzige Bundesregierung am 22. September dieses<br />
Jahres mit dem Entwurf eines „Altersvermögensaufbaugesetzes“<br />
ihr Konzept vorgestellt. Die zentralen<br />
Ziele dieses Reformpakets sind nach unserem Dafürhalten<br />
– erstens, soll, um die Bedingungen für Beschäftigung<br />
und Wachstum und auch für eine langfristige<br />
Finanzierbarkeit zu verbessern, der Beitragssatz<br />
(Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil) bis zum<br />
Jahre 2020 unter 20 vH und bis zum Jahre 2030 unter<br />
22 vH gehalten werden und dies bei einem auch<br />
langfristig nicht unter 64 vH absinkenden Nettorentenniveau<br />
– zweitens soll über eine Förderung des freiwilligen<br />
Altersvorsorgesparens ein kapitalgedecktes Ergänzungssystem<br />
aufgebaut werden, um damit zu einem<br />
mischfinanzierten System der Alterssicherung zu<br />
kommen. Dieses soll dauerhaft ein über dem Status<br />
quo liegendes Gesamtversorgungsniveau sichern.