Jahresgutachten 2000/01 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 7 – Drucksache 14/4792<br />
Strukturreformen wird durch den derzeitigen technologischen<br />
Umbruch in ihrer Aktualität noch betont. Die<br />
Wirtschaftspolitik muss mehr denn je zukunftsgerichtet<br />
sein, damit die Chancen genutzt und die Risiken gering<br />
gehalten werden können. Viele ohnehin überholungsbedürftige<br />
Regelungen auf Gütermärkten werden<br />
durch die neuen Entwicklungen zunehmend in Frage<br />
gestellt oder gar ausgehöhlt. Statt sich diesen Entwicklungen<br />
entgegenzustellen, nimmt eine zukunftsweisende<br />
Politik die – ohnehin unabweisbaren –<br />
Herausforderungen der globalisierten Wissens- und Informationsgesellschaft<br />
an und stellt sich dem internationalen<br />
Standortwettbewerb durch eine marktorientierte<br />
Wirtschaftspolitik. Hierzu gehört auch, das<br />
Wachstumspotential der deutschen Volkswirtschaft<br />
durch eine moderne Einwanderungspolitik zu stärken.<br />
Humankapital ist der Schrittmacher der Wissens- und<br />
Informationsgesellschaft. Derzeit jedoch wird das Arbeitskräftepotential<br />
nicht optimal genutzt: Der deutsche<br />
Arbeitsmarkt ist durch ein Nebeneinander von hoher<br />
Arbeitslosigkeit bei den weniger qualifizierten<br />
Arbeitnehmern und Engpässen in anderen Bereichen<br />
gekennzeichnet. Zusammen mit verstärkten Anstrengungen<br />
im Bildungsbereich kann ein klares Einwanderungsgesetz,<br />
das neben quantitativen auch qualitative<br />
Kriterien enthält, daher helfen, den Wachstumsfaktor<br />
Humankapital in Deutschland zu stärken.<br />
Lohnpolitik und Arbeitsmarktordnung:<br />
Den eingeschlagenen Weg fortsetzen – die neuen<br />
Herausforderungen annehmen<br />
(Ziffern 408 ff.)<br />
12. Die derzeitige Erholung auf dem Arbeitsmarkt<br />
kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeitslosigkeit<br />
immer noch die gravierendste Zielverfehlung<br />
der Wirtschaftspolitik ist. Aber nicht nur der Abbau der<br />
weitgehend verfestigten Arbeitslosigkeit macht dringend<br />
eine Reform der Arbeitsmarktordnung erforderlich,<br />
sondern auch die Herausforderungen der Zukunft.<br />
Der Übergang von der Industrie- <strong>zur</strong> Dienstleistungsgesellschaft,<br />
der durch die Kräfte der Neuen Ökonomie<br />
angestoßene Strukturwandel und der technische Fortschritt<br />
bieten Chancen, bergen aber auch Risiken für<br />
die Beschäftigung. Arbeitsplätze fallen in den tradierten<br />
Wirtschaftsbereichen weg und entstehen in den zukunftsträchtigen<br />
Segmenten der Volkswirtschaft, beispielsweise<br />
in den Unternehmen des Informations- und<br />
Kommunikationssektors. Ob der Beschäftigungseffekt<br />
insgesamt positiv ist, wird auch von der Flexibilität des<br />
Arbeitsmarkts entschieden. Flexibilität des institutionellen<br />
Rahmenwerks und der Tarifverträge ist eine<br />
notwendige Voraussetzung dafür, dass die freigesetzten<br />
Arbeitnehmer rasch wieder eine neue Beschäftigung<br />
finden. Gelingt dies nicht, besteht die Gefahr, dass sich<br />
die Arbeitslosigkeit verfestigt. Mit der Dauer der Arbeitslosigkeit<br />
steigt nämlich das Risiko, dass das Gelernte<br />
obsolet wird und die Aussicht, in Beschäftigung<br />
zu kommen, sinkt.<br />
13. Besonders betroffen von diesen Entwicklungen<br />
sind die Geringqualifizierten, deren Tätigkeiten relativ<br />
leicht durch Maschineneinsatz oder ausländische Fertigung<br />
zu ersetzen sind. In der Folge nimmt die Arbeitslosigkeit<br />
bei den Personen ohne abgeschlossene<br />
Berufsausbildung überproportional zu. Eine den Erfordernissen<br />
des Strukturwandels angemessene Arbeitsmarktordnung<br />
sollte diesem Personenkreis daher spezielle<br />
Aufmerksamkeit schenken. Eine kurzfristige<br />
Möglichkeit, das Angebot und die Nachfrage in diesem<br />
Segment des Arbeitsmarkts besser in Einklang zu bringen,<br />
besteht in einer stärkeren qualifikatorischen Lohndifferenzierung.<br />
Hierbei geht es nicht nur um eine<br />
Spreizung nach unten; ein angemessener Lohnabstand<br />
nach oben setzt für den Einzelnen auch Anreize, durch<br />
Ausbildungsanstrengungen seine Qualifikation zu verbessern<br />
und so seine Beschäftigungschancen oder<br />
seine Arbeitsplatzsicherheit zu erhöhen. In der Praxis<br />
offenbaren sich zahlreiche Ansatzpunkte für eine produktivitätsorientierte<br />
Auffächerung der Lohnstruktur.<br />
Einsteigertarife, beispielsweise, sind eine Möglichkeit<br />
im Rahmen der bestehenden Tarifstruktur, Geringqualifizierten<br />
und Langzeitarbeitslosen – mit aus Sicht des<br />
Unternehmens relativ unsicherer faktischer Qualifikation<br />
– den Einstieg in die Beschäftigung zu erleichtern.<br />
Auf der anderen Seite stellt das insbesondere im Angestelltenbereich<br />
noch weit verbreitete Senioritätsprinzip,<br />
also die Koppelung von Grundvergütung und<br />
arbeitsschutzrechtlichen Vergünstigungen an das Lebensalter<br />
oder die Dauer der Betriebszugehörigkeit, ein<br />
Hindernis auf dem Weg zu einer leistungsorientierten<br />
Entlohnung dar und muss daher infrage gestellt werden.<br />
Zu beachten ist, dass eine stärkere Lohnspreizung nach<br />
unten Anreizprobleme bei einem zu hohen Anspruchslohn<br />
verursachen kann. Das Ziel einer ausgeprägteren<br />
Lohndifferenzierung kann nur dann erreicht werden,<br />
wenn auch die den Anspruchslohn im unteren Lohnsegment<br />
determinierenden Faktoren Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe<br />
und Arbeitslosengeld ebenfalls auf den<br />
Prüfstand gestellt werden.<br />
14. Qualifikatorische Lohnspreizung ist jedoch nur<br />
eine Dimension einer ausdifferenzierten Lohnstruktur.<br />
Die Differenzierung nach regionalen und branchenspezifischen<br />
Aspekten sind die beiden ergänzenden Dimensionen.<br />
Will man mehr Beschäftigung, so gilt es,<br />
institutionelle Wege zu einer dezentralen Lohnfindung<br />
zu beschreiten, um allen drei Dimensionen gerecht zu<br />
werden. Dabei sind drei Ansätze vorstellbar: erstens,<br />
Lösungen im Rahmen des bestehenden Tarifvertragssystems,<br />
zum Beispiel die vermehrte Nutzung von<br />
Öffnungsklauseln, zweitens, der Ausstieg aus der Tarifbindung<br />
und drittens, eine Auflockerung der arbeitsrechtlichen<br />
Rahmenbedingungen durch den Gesetzgeber.<br />
Eine steigende Anzahl von Betrieben entzieht sich,<br />
<strong>zur</strong> Sicherung des Standorts oder aufgrund einer betrieblichen<br />
Notsituation, der bestehenden Tarifbindung<br />
durch gegen § 77 Absatz 3 Betriebsverfassungsgesetz<br />
verstoßende Betriebsvereinbarungen zwischen der