Jahresgutachten 2000/01 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Drucksache 14/4792 – 192 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode<br />
ein breites Bündel von Indikatoren über zukünftige<br />
Preisrisiken und ist daher implizit mit der Inflationssteuerung<br />
verwandt. Die Europäische Zentralbank hat<br />
somit zwei voneinander abhängige Strategien. Diese<br />
Strategie wird auch als eine Art verwässerte Inflationssteuerung<br />
beschrieben, bei der dem Indikator Geldmenge<br />
ein größeres Gewicht zukommt als in der reinen<br />
Strategie der Inflationssteuerung. Damit wäre die<br />
Zwei-Säulen-Strategie genauso von den Unsicherheiten<br />
über die monetären Grundrelationen betroffen wie<br />
die beiden reinen Strategien. Doch eine solche Beschreibung<br />
der Zwei-Säulen-Strategie wird der von der<br />
Europäischen Zentralbank vertretenen Konzeption<br />
nicht gerecht, denn deren erklärte Ratio ist ja gerade<br />
der vermeintlich bessere Umgang mit dem Problem der<br />
Ungewissheit über die grundlegenden monetären Zusammenhänge.<br />
Natürlich kann dies nur über einen<br />
größeren diskretionären Spielraum und durch eine bewusst<br />
vage gehaltene Operationalisierung der Zwei-<br />
Säulen-Strategie geschehen. Die Signale des Indikators<br />
Geldmenge können sogar mit denen des Indikatorbündels<br />
Preisrisiken in Konflikt stehen. Die Notenbank<br />
wird zu einem ständigen Abwägungsprozess veranlasst,<br />
welches Gewicht sie in ihren Entscheidungen dem<br />
Referenzwert für das Wachstum der Geldmenge M3<br />
und welches dem Indikatorbündel für die Inflationsrisiken<br />
beimisst. Hierbei von den Märkten als konsistent<br />
handelnd wahrgenommen zu werden ist schwierig.<br />
341. Ein weiteres Problem, mit dem sich die Europäische<br />
Zentralbank bei der Umsetzung der Zwei-Säulen-<br />
Strategie konfrontiert sieht, ist die kohärente Kommunikation<br />
der Preisrisiken, die sich aus den in der<br />
zweiten Säule enthaltenen Indikatoren ableiten lassen.<br />
Da die Gewichtung der einzelnen Faktoren bei der Abschätzung<br />
der Inflationsgefahren durch die Notenbank<br />
und letztlich ihre Bedeutung im geldpolitischen Entscheidungsprozess<br />
der Öffentlichkeit nicht bekannt<br />
sind, wird die Beurteilung der Konsistenz der Geldpolitik<br />
erschwert. Dies gilt umso mehr, als der von den<br />
einzelnen Indikatoren in der zweiten Säule induzierte<br />
geldpolitische Handlungsbedarf widersprüchlich sein<br />
kann und die Europäische Zentralbank <strong>zur</strong> Begründung<br />
ihrer bisherigen Zinsentscheidungen mal den einen,<br />
mal den anderen Indikator in den Vordergrund gestellt<br />
hat. Die Notenbank riskiert durch diese Vorgehensweise<br />
den Vorwurf einer diskretionären Beliebigkeit<br />
bei der Auswahl der für ihre Entscheidungen relevanten<br />
Variablen. Im Ergebnis kann dies ihrer Glaubwürdigkeit<br />
schaden; auf jeden Fall erschwert es den raschen<br />
Aufbau einer stabilitätsgerichteten Reputation.<br />
Als eine Möglichkeit, das umfangreiche und für die<br />
öffentliche Diskussion deshalb zu komplexe Indikatorenbündel<br />
der zweiten Säule verständlicher zu vermitteln,<br />
wird die Veröffentlichung von Inflationsprognosen<br />
durch die Europäische Zentralbank angesehen.<br />
Letztes Jahr hatte der Präsident der Europäischen Zentralbank<br />
vor dem Europäischen Parlament erklärt, dass<br />
künftig von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht<br />
werden solle. Mit einer offiziellen Entscheidung des<br />
EZB-Rates wird noch vor Jahresende gerechnet. In<br />
dem Maße, in dem dann Abweichungen der prognostizierten<br />
zukünftigen Inflation vom eigenen Stabilitätsziel<br />
– die allgemeine Preissteigerungsrate mittelfristig<br />
unter 2 vH zu halten – transparenter werden, wird die<br />
Europäische Zentralbank zu einer exante Rechenschaftslegung<br />
angehalten. Grundsätzlich dürften von<br />
diesem Begründungszwang positive Effekte auf die<br />
Glaubwürdigkeit der Notenbank ausgehen, so wie es<br />
früher für das Ansehen der Deutschen Bundesbank nur<br />
gut war, dass bei Verfehlungen des Geldmengenziels<br />
sorgfältig die Ursachen dafür untersucht und der Öffentlichkeit<br />
präsentiert und erläutert wurden. Die Geldpolitik<br />
wird, so die Erwartung, berechenbarer und vorausschauender,<br />
die Unsicherheiten in Bezug auf die<br />
monetären Rahmenbedingungen und damit letztlich<br />
auch die Outputvariabilität können reduziert werden.<br />
Diese Vorteile stellen sich aber nur dann ein, wenn die<br />
veröffentlichte Inflationsprognose den Erwartungen<br />
der Marktteilnehmer Führung gibt, und dies wiederum<br />
wird nur erreicht, wenn sie eine zentrale Rolle innerhalb<br />
der zweiten Säule einnimmt. Es ist aufgrund der<br />
Öffentlichkeitswirkung einer von der Notenbank erstellten<br />
Inflationsprognose ohnehin nicht vorstellbar,<br />
dass die Inflationsprognose von den Marktakteuren nur<br />
als einer von vielen Indikatoren betrachtet wird.<br />
Es ist zwischen bedingten und unbedingten Inflationsprognosen<br />
zu unterscheiden.<br />
– In einer unbedingten Prognose wird auch der<br />
zukünftige Zeitpfad der Zinssätze vorhergesagt, die<br />
Europäische Zentralbank würde in diesem Fall<br />
folglich auch ihr eigenes Verhalten prognostizieren<br />
müssen. Da ihre geldpolitischen Entscheidungen<br />
mit dem Ziel getroffen werden, die Inflationsrate<br />
mittelfristig innerhalb des Korridors von 0 vH bis<br />
2 vH zu halten, wäre – bei adäquatem Prognosehorizont<br />
– die unbedingte Prognose einer Inflationsrate<br />
außerhalb dieses Inflationskorridors nicht zielkonform<br />
und könnte der Glaubwürdigkeit der<br />
Zentralbank schaden.<br />
– Aus diesem Grund ist die Veröffentlichung einer<br />
bedingten Prognose wahrscheinlicher. Hierbei wird<br />
die Inflationsrate unter der Annahme unveränderter<br />
Zinssätze prognostiziert. Eine solche Inflationsprognose<br />
gibt nur begrenzt Auskunft über die von<br />
Seiten der Zentralbank tatsächlich erwartete Inflationsrate,<br />
da für sich genommen bei nicht zielkonformer<br />
Inflationsprognose die Zentralbank ihre Geldpolitik<br />
anpassen wird.<br />
Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Europäische<br />
Zentralbank „mechanistisch“ auf die veröffentlichte<br />
Prognose reagiert. Abweichungen der prognostizierten<br />
Inflationsrate vom Zielkorridor werden zwar zu einem<br />
öffentlichen Handlungsdruck auf die Notenbank<br />
führen; ihr steht es aber frei, nicht oder erst später<br />
zu handeln. Allerdings steht sie dann unter Begründungszwang<br />
– und das ist gut so. Versucht sich die<br />
junge Zentralbank diesen disziplinierenden Effekten<br />
zu entziehen, kann ihre Glaubwürdigkeit ernsthaften<br />
Schaden nehmen.