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Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen?

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KONTINUITÄT UND ABBRUCH PERSISTENTER DELINQUENZVERLÄUFE 123<br />

onen begleiteten staatsanwaltlichen Einstellungen nach § 45 JGG, also die Diversion<br />

im engeren Sinne, keinen signifikanten Einfluss auf die weitere selbstberichtete Delinquenz<br />

hatten (a.a.O., S. 203 ff.) und damit die in Deutschland <strong>vor</strong>herrschende Auffassung<br />

unterstützt wird, dass sich (informelle) Diversionsentscheidungen zumindest<br />

nicht negativer auf einen delinquenten Karriereverlauf auswirken als formelle Sanktionierungen<br />

(Heinz 1998; 1999, mit Blick auf den Rückfall auch 2004, S. 43 ff.; Brunner<br />

und Dölling 2002, § 45, Rn. 4 ff.; Ostendorf 2007, Grdl. z. §§ 45 u. 47, Rn. 4 ff.<br />

m.w.N.). Angesichts dieser Befunde deutet sich allmählich ein differenzierteres Zusammenhangsbild<br />

an. In Rochester und Bremen sowie – mit Einschränkungen hinsichtlich<br />

der direkten Effekte – in der Reanalyse der Gluecks-Daten zeigte sich, dass<br />

neben sich wechselseitig verstärkenden sozialstrukturell begründeten Nachteilen<br />

(schulischer und beruflicher Misserfolg, Cliquenzugehörigkeit) einerseits und der<br />

Fortsetzung <strong>vor</strong>hergehender Delinquenz andererseits, formelle Sanktionen die weitere<br />

Delinquenzentwicklung eigenständig und bedeutsam verstärken können.<br />

Freilich sind damit die zuletzt von Paternoster und Iovanni modellierten komplexen<br />

Zusammenhänge zwischen Primärverhalten, Labelingprozessen und Sekundärverhalten<br />

<strong>vor</strong> dem Hintergrund einer in sozialen Interaktionen reproduzierten Sozialstruktur<br />

nur erst in Ansätzen empirisch analysiert worden. Es fehlen beispielsweise Untersuchungen<br />

darüber, wie öffentliche formelle Etikettierungen sozial vermittelt werden,<br />

also wie sie in signifikanten Bezugsgruppen (Familie, Freunde, Schulklasse) je nach<br />

deren sozialer und/oder ökonomischer Kompetenz moderiert, das heißt im Hinblick<br />

auf die Vermeidung einer kriminellen Entwicklung abgeschwächt oder verstärkt werden<br />

können. Darüber hinaus ist nicht bekannt, welche Bedeutung der subjektiven Bewertung<br />

eines Labels durch den Adressaten zukommt. So nimmt Sherman (1993, S.<br />

463) an, dass erst Sanktionierungen, die als ungerecht empfunden werden, delinquenzfördernde<br />

(sekundäre Devianz) Abwehr- oder Trotzreaktionen (Defiance) her<strong>vor</strong>rufen<br />

(ebenso Prein und Schumann 2003, S. 185, 215 f.).<br />

Neben solchen sozialpsychologischen Prozessen bleiben Effekte systemischer Eigendynamik<br />

freilich bestehen. Indem sich formelle Kontrollsysteme wiederholt auf<br />

ihre (im institutionalisierten Ermittlungs- und Sanktionierungsgedächtnis archivierten)<br />

<strong>vor</strong>herigen Entscheidungen beziehen, erhöht sich das Entdeckungs- und Sanktionierungsrisiko<br />

unabhängig von anderen persönlichen oder sozialen Faktoren. Hermann<br />

und Kerner (1988; siehe auch Kerner und Janssen 1996) kommen auf Grund von Analysen<br />

über den Verlauf der Rückfälligkeit von 500 Gefangenen, die 1960 aus zwei<br />

nordrhein-westfälischen Jugendstrafanstalten entlassen worden waren, zum Ergebnis,<br />

dass die Eigendynamik der Verurteilungen (also die „Justizkarriere“) für die Rückfallhäufigkeit<br />

wesentlich bedeutsamer ist als Sozialisations- oder Persönlichkeitsdefizite.<br />

Auch in einer an systemtheoretischen Überlegungen (zum Beispiel zur Selbstreferenz,<br />

Luhmann 1984, S. 57 ff.; siehe Boers 1997, S. 567 ff.) orientierten explorativen Ana-<br />

len(bereiche) Sanktionierung, Cliquenzugehörigkeit sowie <strong>vor</strong>herige selbstberichtete Delinquenz. –<br />

Auch in den Analysen der Denver-Studie fanden Huizinga et al. (2003, S. 81), dass polizeiliche Vernehmungen<br />

(Arrest) kaum abschreckend, sondern <strong>vor</strong>nehmlich verstärkend auf weiteres delinquentes<br />

Verhalten wirkten. Drei Viertel der Probanden, die erstmals polizeilich vernommen worden waren, unterschieden<br />

sich nicht oder berichteten nachfolgend mehr delinquentes Verhalten als eine ansonsten<br />

gleich strukturierte Kontrollgruppe.

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