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Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen?

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MICHAEL WINKLER<br />

Oft wird gesagt, dass den Erzieher auszeichnet, die Welt besser zu kennen. Da<br />

muss man – siebtens – <strong>vor</strong>sichtig sein. Hochbelastete Kinder und Jugendliche verfügen<br />

über eine Welterfahrung und Weltkenntnis, die fast erschreckend groß ist (bei<br />

häufig fehlender Kenntnis von banalen und trivialen Sachverhalten des Alltags). Besserwissende<br />

Erzieher wirken diesen Wissen gegenüber eher peinlich. Wichtiger ist es<br />

wohl, dass in der schon genannten Schutz- und Bewahrfunktion des pädagogischen<br />

Ortes zugleich eine Art Filterwirkung gegenüber der Welt draußen zum Tragen<br />

kommt (Mollenhauer 1983). Dieser Filter lässt nicht alles zu und bedeutet zugleich,<br />

dass die Beteiligten ein Stück weit auf sich selbst verwiesen sind, eine eigenen Welt<br />

aufbauen – was man übrigens in ganz besonderer Weise bei Trainingsmaßnahmen<br />

beobachten kann –, <strong>vor</strong> allem die Welt nicht in ihrer Unmittelbarkeit auf sich wirken<br />

lassen müssen. Wenn man nämlich den mitgeteilten Erfahrungen glauben darf, dann<br />

liegt ein Kernproblem vieler hochbelasteter junger Menschen darin, dass sie in ihrer<br />

Entwicklung sozusagen die grammatischen Tiefenstrukturen der Gesellschaft und<br />

ihrer Kultur nicht erwerben konnten. Sie agieren in der Kälte und Brutalität, in der<br />

Widersprüchlichkeit, die wir normalerweise wegstecken, weil wir über die grundlegendere<br />

Handlungskompetenzen schon verfügen. Deshalb hat schon Freud darauf<br />

hingewiesen, dass man gleichsam „nacherzogen“ werden muss, wenn man sich die<br />

Grundmechanismen der Welt nicht aneignen konnte.<br />

Durch die Filterfunktion des pädagogischen Ortes werden nun – achtens – solche<br />

Tiefenstrukturen zugänglich – beispielsweise der Verzicht auf die unmittelbare aggressive<br />

Reaktion. Dazu müssen jedoch Erzieher die Außenwelt aufnehmen, selbst<br />

präsentieren und repräsentieren. Jeder Erziehungssituation eignet somit einerseits ein<br />

didaktischer Zug, andererseits eine Art der theatralischen Inszenierung. Erziehung<br />

gelingt nämlich nicht ohne ein Aufmerksammachen, ein Zeigen, wobei alle Beteiligten<br />

auf das gezeigte Objekt blicken können – dahinter verbirgt sich übrigens ein grundlegend<br />

anthropologischer Sachverhalt. <strong>Das</strong> Dilemma besteht aber eben darin, auf die<br />

Tiefenstrukturen zu kommen, welche der Welt draußen zugrunde liegen, und sie so in<br />

die eigene Handlungskompetenz einzufügen, dass man sie gleichsam technisch verwenden<br />

kann. Die Tiefenstrukturen der Welt müssen sozusagen <strong>vor</strong>gespielt und eingeübt<br />

werden, weil sie in der sozialen und kulturellen Erfahrungswirklichkeit nicht<br />

unbedingt erkannt werden können. Übrigens: dies ist ein Grund dafür, dass Trainingsmaßnahmen<br />

funktionieren können, sofern sie nicht isoliert bleiben.<br />

Nebenbei – neuntens – gesagt: die Zöglinge präsentieren und repräsentieren selbst<br />

nicht minder Lebensentwürfe, die von den Erzieher ebenfalls entschlüsselt werden<br />

müssen. Wir haben also zu tun mit einer Filterung der Welt, dem Präsentieren und<br />

Repräsentieren auf der einen Seite, den zu entschlüsselnden Lebensentwürfen auf der<br />

anderen Seite. Hier wie dort werden die Subjekte zu Objekten, die sich zwar miteinander<br />

auseinander setzen, darin einerseits eine gemeinsame Welt füreinander schaffen,<br />

in der andererseits die Außenwelt so nachklingen kann, dass man sich voneinander zu<br />

lösen vermag. Wie immer man es nämlich drehen und wenden will: die entscheidende<br />

Leistung des erzieherischen Geschehens liegt darin, dass die Beteiligten Autonomie<br />

gewinnen.<br />

Endlich, zehntens: Dazu gehört übrigens auch zu begreifen, dass sich alle Beteiligten<br />

in diesem Geschehen verändern. Vermutlich liegt darin die größte Schwierigkeit,

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