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Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen?

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MICHAEL WINKLER<br />

ten zu verprügeln, haben wir kontinentaleuropäisch notorisch mit Unbekanntem zu<br />

tun, wenn es um die eigentlichen Erziehungsleistungen geht. Freilich: das ist so lange<br />

einigermaßen gut gelaufen, wie Gesellschaften und Kulturen über ein Mindestmaß an<br />

dauerhaft gültigen Vorstellungen von sich selbst verfügt und diese schlicht tradiert<br />

haben. Faktisch hat sich alle Erziehung, die institutionelle insbesondere in schöner<br />

Regelmäßigkeit auf die Erziehung <strong>vor</strong> der Erziehung verlassen, wie sie durch die<br />

Umwelt und Mitwelt faktisch geleistet worden ist. Sozialer und kultureller Konsens<br />

einerseits und dessen stetiger Bestand im Generationenwechsel bilden also die Elemente,<br />

welche das ambitionierte Fortschrittsprogramm zunächst der Aufklärung, dann<br />

der Moderne funktionieren und einigermaßen erträglich haben sein lassen.<br />

Aura meint also, dass der Begriff der Erziehung diese als einen eigenen Wert hoch<br />

geladen hat; er konnotiert letztlich die ganze Veredelungsmaschinerie, auf welche wir<br />

im Elend unserer Lebensverhältnisse angewiesen sind. Der Begriff eröffnet eine Perspektive<br />

und einen Erwartungshorizont für die Reise aller. Nur: das Navigationsgerät<br />

wurde weitgehend vergessen. Man kann dies übrigens wunderbar an jenen ungemein<br />

erfolgreichen, häufig aus journalistischer Feder geflossenen Traktaten über Erziehungskatastrophen<br />

und Erziehungsnotständen erkennen, welche ein lautes Lamento<br />

über die <strong>vor</strong>geblich misslingende Erziehung anstimmen, um sogleich dann doch wieder<br />

mehr an Erziehung zu fordern.<br />

Ein reflexiver Begriff ist der Begriff der Erziehung jedoch, weil er in seiner Projektion<br />

auf die jüngere Generation (und heute zunehmend auf Menschen in ihrem gesamten<br />

Lebenslauf) dazu dient, dass sich Gesellschaften und Kulturen über sich selbst<br />

verständigen. Der Begriff der Erziehung eröffnet mithin eine Art Deutungsraum; öffentliche<br />

Erziehungsdebatten sprechen daher moralisierende Raisonnements mit der<br />

wunderbaren Konsequenz aus, dass sie ohne Folgen stattfinden können. Darüber hat<br />

sich der schon zitierte Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher in seiner<br />

Vorlesung über die Kunst der Erziehung mokiert (vgl. Schleiermacher 1826 / 2000).<br />

Er fordert nämlich energisch, die ältere Generation solle doch gefälligst erst einmal<br />

darüber nachdenken, was sie denn mit der jüngeren überhaupt machen will. Anders<br />

formuliert: Wenn öffentlich, medial und politisch der Erziehungsbegriff in Anspruch<br />

genommen wird, denkt man in der Regel überhaupt nicht daran, was man den mit den<br />

zu Erziehenden eigentlich anstellen soll – diese Frage wird vielmehr locker an die<br />

Eltern und an die unterschiedlichen professionellen Pädagogen delegiert, die mit denjenigen<br />

zurande kommen sollen, welchen dann häufig genug pauschal Erziehung abgesprochen<br />

wird. Zur Lösung dieses so festgehaltenen Erziehungsdefizits soll aber<br />

dann jenen, die – aus welchen Gründen auch immer – deviant oder kriminell werden,<br />

wiederum mit Erziehung beizukommen sein; nicht selten wünscht man also in den<br />

öffentlichen Debatten um Erziehung mehr Erziehung, obwohl zugleich das Fehlen<br />

oder gar Versagen von Erziehung beklagt wird. Zur Reflexivität des Erziehungsbegriffs<br />

gehört endlich, dass dieser zumindest in der öffentlichen Kommunikation mit der<br />

Intention auftritt, die Lebenspraxen von Gemeinschaften und Individuen regulieren zu<br />

sollen, ohne auch nur zu sagen, wohin die Reise gehen sollte. Die Verwendung des<br />

Erziehungsbegriffs erfolgt also mehr oder weniger metaphorisch, sie dient der Beschreibung<br />

aller Übel und zugleich aller Heilmittel für diese.

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