Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen?
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ZUNEHMENDE PUNITIVITÄT IN DER PRAXIS DES JUGENDKRIMINALRECHTS? 35<br />
Die bisherigen Analysen beschränkten sich auf das allgemeine Strafrecht. Wegen<br />
methodischer Probleme, insbesondere wegen des Einflusses der staatsanwaltschaftlichen<br />
Diversionsentscheidungen, wurde von einer expliziten Untersuchung von Punitivitätstendenzen<br />
in der <strong>Jugendkriminalrecht</strong>spflege abgesehen und stattdessen die These<br />
aufgestellt, ein für das allgemeine Strafrecht „nachweisbarer Punitivitätsanstieg<br />
(gebe) dann einen sehr ernsthaften Hinweis darauf, dass die neue Punitivität auch die<br />
Praxis des Jugendstrafrechts beeinflusst“. 27<br />
Die für das allgemeine Strafrecht bislang <strong>vor</strong>gelegten Analysen beschränkten sich<br />
auf die Auswertung der Aggregatdaten der Strafrechtspflegestatistiken, wobei in der<br />
Regel nur einzelne Datengruppen (Gefangene, Freiheitsstrafenanteil, Strafrestaussetzung)<br />
für ausgewählte, typischerweise nur der Bestätigung der Punitivitätsthese dienende<br />
Deliktsgruppen (Gewalt- und Sexualdelikte) herausgegriffen wurden. 28<br />
Die neuere Diskussion beschränkt sich zumeist auf den Zeitraum ab 1990, d.h. auf<br />
eine Periode mit einem erneuten Anstieg der Gefangenenraten. Um die gegenwärtige<br />
Entwicklung aber einordnen und bewerten zu können, ist eine Langfristbetrachtung<br />
angezeigt. Danach steht für Deutschland fest:<br />
• In einer langfristigen Perspektive gibt es – insgesamt gesehen – in der Sanktionierungspraxis<br />
keine Tendenz zu Punitivität (vgl. Schaubild 2 29 ), wenn als<br />
Indikator die Verhängung unbedingter oder bedingter Freiheits- oder Jugendstrafe<br />
zugrunde gelegt wird. 1882, zu Beginn des statistisch überblickbaren<br />
Zeitraumes, betrug der Anteil der unbedingt verhängten freiheitsentziehenden<br />
Sanktionen in Deutschland 76,8%, 1955 21,7%, 2006 betrug er 8,7%. 30 Die<br />
Justiz war in den 1950er und 1960er Jahren „punitiver“ als heute; die Gefangenenraten<br />
waren höher; wegen Überbelegung wurden Vollstreckungsstopps<br />
angeordnet. Eines der Ziele der Strafrechtsreform von 1969 war ja die Zurückdrängung<br />
insbesondere der kurzen Freiheitsstrafe, womit die Erwartung<br />
verbunden war, den Strafvollzug nachhaltig zu entlasten und so überhaupt erst<br />
die tatsächlichen Voraussetzungen für dessen Reform zu schaffen. 31<br />
27<br />
Streng, Franz: Befunde und Hintergründe zunehmender Punitivität, in: DVJJ (Anm. 15), S. 354.<br />
28<br />
Vgl. Kury et al. (Anm. 8), S. 51 ff.; Kury, Helmut ; Obergfell-Fuchs, Joachim: Punitivität in Deutschland<br />
- Zur Diskussion um eine neue "Straflust", in: Festschrift für H.-D. Schwind, Heidelberg, 2006, S.<br />
1021 ff.; Kury, Helmut: Mehr Sicherheit durch mehr Strafe?, Parl Beilage 2007, Nr. 40-41, S. 30 ff.;<br />
Kury, Helmut; Obergfell-Fuchs, Joachim: Zur Punitivität in Deutschland, Soziale Probleme 2006, S.<br />
119 ff.; Meier, Bernd-Dieter: Strafrecht im Wandel – die Veränderungen im Sanktionssystem als Ausdruck<br />
zunehmender Punitivität, in: Festschrift für H. Rüping, München 2008, S. 73 ff.; Meier, Bernd-<br />
Dieter: Kriminalpolitik in kleinen Schritten - Entwicklungen im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem,<br />
StV 2008, S. 263 ff.; Obergfell-Fuchs, Joachim: “Punitivity” within the Criminal Justice System in<br />
Germany, in: Kury, H. (ed.): Fear of Crime – Punitivity. New Developments in Theory and Research.<br />
Crime and Crime Policy, vol. 3, Bochum 2008, 303 ff.; Streng (Anm. 27), S. 354 ff.<br />
29<br />
Wegen der Daten im Einzelnen vgl. die Belege bei Heinz (Anm. 9) zu Schaubild 3.<br />
30<br />
Werden auch die Einstellungen gem. §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG berücksichtigt, die ja<br />
1882 (jedenfalls in der Theorie) alle zur Verurteilung führten, dann beträgt derzeit der Anteil der unbedingt<br />
verhängten freiheitsentziehenden Strafen weniger als 4% (vgl. Heinz [Anm. 9], III.1.1).<br />
31<br />
Erster Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drs. V/4094, S. 11).