Konzeptuelles und prozedurales Wissen als latente Variablen: Ihre ...
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Erwerb <strong>und</strong> Abruf konzeptuellen <strong>und</strong> prozeduralen <strong>Wissen</strong>s 103<br />
verwoben mit den so genannten math wars, einer in den USA erbittert geführten<br />
öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Politikern, Lehr-Lern-Forschern <strong>und</strong> Eltern um<br />
die Gestaltung von Unterrichtsreformen <strong>und</strong> insbesondere um die vom National Council of<br />
Teachers of Mathematics herausgegebenen Unterrichtsstandards (z.B. National Council of<br />
Teachers of Mathematics, 1989; National Council of Teachers of Mathematics, 2000). In<br />
den math wars werden vielfältige Interessen mit unterschiedlichen Arten von Argumenten<br />
verfolgt (für eine Analyse s. Schoenfeld, 2004). Die Frage nach der Gewichtung von<br />
konzeptuellem Verständnis <strong>und</strong> prozeduralen Fertigkeiten stellt nur einen Teilaspekt der<br />
Debatte dar. Dennoch lässt die Diskussion erkennen, dass auch ein öffentliches Interesse<br />
an Fragen des Verhältnisses zwischen konzeptueller <strong>und</strong> prozeduraler Kompetenz besteht<br />
<strong>und</strong> dass Aussagen über die Relationen zwischen konzeptuellem <strong>und</strong> prozeduralem <strong>Wissen</strong><br />
direkt die Lehrplangestaltung beeinflussen können.<br />
Baroody weist jedoch auch darauf hin, dass die skills versus concepts debate, <strong>als</strong>o die<br />
Frage, ob Konzepte ein wichtigeres Lernziel darstellen <strong>als</strong> Prozeduren oder umgekehrt, aus<br />
wissenschaftlicher Sicht heute nicht mehr aktuell ist. Es hat sich die Erkenntnis<br />
durchgesetzt – auch durch schlechte Erfahrungen, die in den USA mit einseitigen<br />
Unterrichtsreformen gemacht wurden – dass Schüler im Leben beides brauchen <strong>und</strong> dass<br />
darum beides im Unterricht vermittelt werden muss.<br />
Nach Baroody ist die bloße Vermittlung von beidem jedoch nicht ausreichend, weil<br />
Kinder oft nicht in der Lage sind, Konzepte <strong>und</strong> Prozeduren ausreichend gut miteinander<br />
zu verknüpfen, selbst wenn sie über beides verfügen. Diese Verknüpfung ist jedoch von<br />
besonderer Wichtigkeit, da sie adaptive Expertise verleiht: die Fähigkeit, Prozeduren durch<br />
Anwendung konzeptuellen Hintergr<strong>und</strong>wissens adaptiv <strong>und</strong> flexibel anwenden zu können<br />
<strong>und</strong> Konzepte durch <strong>prozedurales</strong> Hintergr<strong>und</strong>wissen schnell <strong>und</strong> effizient verwenden zu<br />
können. Das Konzept der adaptiven Expertise wurde von Hatano (1982) <strong>als</strong> Gegenentwurf<br />
zu den traditionell sehr auf prozedurale Fähigkeiten fokussierenden Expertise-Theorien<br />
(vgl. Johnson, 2003) vorgeschlagen. Es basiert auf der Idee, dass konzeptuelles <strong>und</strong><br />
<strong>prozedurales</strong> <strong>Wissen</strong> jeweils spezifische Vor- <strong>und</strong> Nachteile haben, die eine einzelne Art<br />
von <strong>Wissen</strong> nicht in sich vereinen könnte (vgl. die evolutionspsychologischen Argumente<br />
in Unterabschnitt 4.4.5). Durch eine optimale Verknüpfung könnte, nach Hatano <strong>und</strong><br />
Baroody, ein Lerner von den Vorteilen beider <strong>Wissen</strong>sarten profitieren, ohne durch ihre<br />
Nachteile eingeschränkt zu werden. Wie eine solche Verknüpfung im Unterricht konkret<br />
erreicht werden kann <strong>und</strong> ob sie wirklich die vorgeschlagenen Auswirkungen hat <strong>und</strong><br />
somit ein optimales Unterrichtsziel darstellt, ist jedoch noch nicht systematisch empirisch<br />
belegt <strong>und</strong> ein wichtiges zukünftiges Forschungsfeld.