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Erwin dagegen kannte kein Erbarmen. Er soff wie ein Bürstenbinder. Bis kurz vor
Mitternacht. Dann war er nicht mehr Herr seiner Sinne, nahm seine Notenmappe
vom Ständer und schmiss sie in die Höhe. Die einzelnen Stimmen wirbelten getragen
wie von einem sibirischern Steppenwind durch den Kultursaal. Das Akkordeon
konnte er sich nicht mehr umhängen. Allein mit seinem Schwager Walter Lehmann
am Schlagzeug, bestritt Jürgen nun mit seinem Saxofon den Abend.
Die kulturellen Höhepunkte der Tanzabende bildet ein sogenanntes »Marsch-
Potpourrie«. Eine gute halbe Stunde lang werden Volksweisen und Sauflieder mit
entsprechenden frivolen Texten zelebriert. In welchem Maße sich das Publikum
hierbei entzückt, bleibt für Micky unverständlich. Hemmungslos wird mitgesungen
und gebrüllt, die Textsicherheit ist imposant: „Ein schöner weißer Arsch/mit einer
bunten Feder dran/viel schöner als ein Goldfasan. Mein Mann hat Nachtschicht/
da kannste komm/brauchst nicht zu klingeln/gehst hinten rum. Herr Wirt wo ist
mein Hut/der war neu/der war gut/Herr Wirt wo ist mein Hut/ist er weg, dann packt
mich gleich die Wut. Scheißegal/scheißegal/ob du Huhn bist oder Hahn/wenn du
Huhn bist, muss du Eier legen können/wenn du Hahn bist, musst du Hühner treten
können. Alle Mädchen haben/alle Mädchen haben/einen kleinen Schützengraben/
alle Jungen haben/allen Jungen haben/einen kleinen Zinnsoldaten/alle Zinnsoldaten/
alle Zinnsoldaten/müssen in den Schützengraben. Wer hat den dicksten/wer hat den
dicksten/wer hat den dicksten Mann der Welt gesehn/er hat zwei Eier/er hat zwei
Eier/er hat zwei Eierkuchen in der Hand/er wollte vögeln/er wollte vögeln/er wollte
Vögel fangen gehn.“
Bei einem Gig im Schönebecker »Braunen Hirsch« befindet sich ein ehemaliger
Kumpan im Publikum. Dieser erinnert Micky an dessen vor Jahren abgegebenes
Versprechen und zitiert: „Lieber hacke ich mir selbst die Hand ab, ehe irgendwann
einmal andere Musik machen zu müssen.“ Na gut.
Das Kulturhaus gehört dem VEB Schönebecker Heizkesselwerk. Hier spielt das
Team 77 recht oft. Es ist gewissermaßen ihr »Festes Haus«. Und es ist alt. Das immer
wiederkehrende Hochwasser der Elbe setzt ihm zu. Das hölzerne Stützgebälk im
Keller ist mehr als morsch. Der springende Punkt: Es hat auch die Tanzfläche zu
tragen. Die Kulturhausleitung muss handeln. Sie beschließt bereits Anfang der 70er
Jahre: „Kasatschok tanzen verboten!“ Auch Erwins Kapelle wurde damals beauflagt,
keine dem Genre entsprechenden Titel zu spielen. Zu groß war die Angst, die
Parkettfläche könne unter den stampfenden Gebärden der Tänzer, zusammenbrechen.
Am 28. Januar 1978 ist Fasching in Wolmirsleben mit dem Bierer Karnevals-club.
Nach Mitternacht sind dessen Mitglieder über dem Berg und ausgelassen toben sie
nun auch auf der Bühne. Hinter der Band befindet sich eine lange Bank, auf der sie
wild herumtanzen und die Trinklieder mitgröhlen. Wild stampfen sie den Rhythmus,
die gesamte Bühne wird in Schwingung versetzt. Mickys hoher Turm seiner »Regent
600«-Anlage wankt beträchtlich und droht umzustürzen.
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