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1974: Gottes Vieh
In der die Menschen durch ihr langatmiges und unverständliches Leben trampeln.
Hier genießt er die Einsamkeit. Die Stille ist wundervoll. Er hat das Gefühl, als sei
etwas Heiliges in der Nähe. Warum schenkt der Mensch der künstlichen Welt die er
geschaffen hat, mehr Beachtung als der natürlichen Welt, die ihn geschaffen hat? Ist
er allein unterwegs, leben seine Geister auf und die Phantasie geht mit ihm durch. So
sichtet er manchmal einen stur im Schnee dahinstapfenden Troll. Er lässt das Auge
seiner Fantasie eine Kamera sein. Ein Fantast, der Provokation und Extravaganz
frönt. Jemand, der die Übertreibung ebenso sehr in seiner Musik wie auch in seinem
Verhalten auslebt.
Micky: „Der Mensch sollte sich nur bei Müdigkeit schlafen legen, nur hungrig Nahrung
zu sich nehmen und nur bei verspürter Lust einer Beschäftigung nachkommen.
Nichts darf sich nach Regelmäßigkeiten und Gewohnheiten richten.“
Gitarre, Bass und Drums sind schon einmal nicht schlecht, aber irgendwie fühlt
Micky, es fehlt da noch etwas. Er will der Musik etwas Innovatives, etwas Autarkes
zusprechen können. Jemand soll ein Tonbandgerät bedienen, mit dessen Hilfe und
den darauf vorproduziert befindlichen Geräuschkulissen Akzente an defi-nitiven
Positionen innerhalb der Arrangements gesetzt werden können. Natürlich muss so
etwas auch gleich definiert werden. Der Neue, der Vierte in der Band, sollte seine
Arbeit als »Azimut-Koordinator« verstehen - das klingt doch schon hinlänglich
extravagant. Volker Ehlert soll es machen. Er soll zum Herrn aller natürlichen und
synthetischen Sounds avancieren. Ohrenbetäubende Wellenbrandung, knarrende
Schiffsplanken, gigantische Explosionen, alptraumhafter Fabriklärm. All dies und
noch viel mehr soll er »aus dem Kasten« lassen. Doch dies sollen nur Gedanken
bleiben.
Eine verdammt gemütliche Zeit verbringt die Band bei und vor allem nach getaner
Arbeit. In einem Schuppen neben dem Hauptgebäude finden sich ge-hörige Mengen
tiefgefrorener Würstchen, Schnitzel, Brötchen und in erster Linie kistenweise Bier
und Unmengen an Schnaps. Der Vorrat der Wurftaubenschützen. Dem Anblick dieser
so zahlreichen Magenfüller und Freudenmacher kann Gottes Vieh weiß Gott, nicht
lange widerstehen. Noch bevor sich das illegale Vergreifen, Micky spricht lediglich
von Mundraub, als verhängnisvoll erweisen sollte, ereignen sich die folgenden zwei
Storys:
Irgendwann während der eisigen Januartage 1974 geht bei einer Probe das Heizmaterial
aus. Klaus, Ecki und Micky machen sich darum auf, aus einer ca. 40 Meter entfernten
Stallung Nachschub zu holen. Per Hand befördern sie die Kohlen in einen
dort aufgefundenen Sack und zerren diesen in das abendliche Schneegestöber hinaus.
Trotz der gleitfreudigen Schneedecke haben die drei für die nächste Viertelstunde
ganz schön zu asten. Dieser Hergang, den ein auf dem etwa 400 Meter entfernten
Wachturm stehender Betriebsschutzangehöriger des »VEB Sprengstoffwerkes«
durch sein Fernglas wahrnimmt, muss recht dubios anmuten.
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