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1993: Gottes Vieh
Depressive Stimmungen kennt Micky nicht. In seinen Knochen wird noch Musik
sein, wenn sie in die Grube hinabpoltern. Auf dem Weg vom Samenerguss der
Väter bis zur Fäulnis, sollte es Erfüllung geben. Er setzt seine Seele auf diese, eine
Sache. Die Musik ist sein Fenster und seine Art zu sehen. Sie ist seine Farbe und
sein Licht. Sie ist das Gefäß, in das er sich ergießt. Sie gibt ihn Form. Struktur. Seine
grenzenlose Freude.
Bald schon macht er sich auf, um Kontakt mit der Nachwuchsszene in Schönebeck
aufzunehmen. Die gleichaltrigen Musiker aus »Alten Zeiten« sind ihm viel zu passiv
geworden. Er kann nicht verstehen, dass so mancher Blumentopf jetzt auf deren
alten Boxen steht. Zusammen mit seiner mittlerweile siebzehnjährigen Tochter Jana
Hennemann, die sich mit dem Bassspiel beschäftigt, reifen neue Ideen.
Im April 1993 sprechen sie mit dem Ex-Trommler von DEPREVATION und
ZECKOUND HAND Ingolf Just. Und sie ziehen mit dem alten Team 77- und
Skaship-Equipment in einen Kellerraum des ehemaligen Schönebecker Pionierhauses.
Für ein paar Wochen wirkt bei der neu entstandenen Band nochmals
der Sänger Matthias Lewy mit. Sie setzen ausschließlich eigenes Material um:
»Senseless Things«, »Rebirth«, »Wild West«, den Spoons B-Song »The Loser«,
sowie die alte Gottes Vieh-Nummer »Creepy Message« in einer neuen Version. Doch
bereits nach einigen Wochen lässt der Drummer, der vorrangig in der Hardcore-
Formation BLESS MY BRAIN spielt, sie im Stich. Zwei weitere Schlagzeuger der
Szene werden »durchprobiert«, aber niemand will so recht Fuß fassen. Wie schon
Ingolf, schmettern diese während der Proben buchstäblich die Sticks durch den
Raum. Die eigenwillige Rhythmik, komplizierte Breaks und überhaupt die Musik
bringt sie an den Rand der Verzweiflung. Ein äußerst von der Substanz her, guter
Schlagzeuger verzweifelt. Nachdem er die Schlusstakte zu »Creepy Message« zehnmal
durchgeprobt hat und zu keinem positiven Resultat kommt, kann er nicht mehr
an sich halten. Er stellt Matthias, Jana und Micky mit tränenerfüllten Augen die
Frage: „Könnt ihr eigentlich auch einmal einen richtigen Rock and Roll spielen?“
Olaf M.: „Das war vielleicht eine Scheiße.“
Die Pfingsttage verbringt Micky an der Ostsee auf der Insel Usedom. Zeltplatz
Ückeritz. In Peenemünde gerät er zufällig in eine dort stattfindende Demonstration.
Über ihren Inhalt hört er das erste Mal, dies aus gutem Grund. Wohlweislich
verschwieg die Bundesregierung den geplanten Verkauf mehrerer Kriegsschiffe der
ehemaligen DDR-Volksmarine. Deren Technik gilt als veraltet und ihre Verschrottung
als zu kostspielig. So soll sie Indonesien bekommen, alle für eine obligatorische
D-Mark. Doch das Land befindet sich in einem Konflikt mit Ost-Timor; ein dubioser
Einsatz des Kriegsgerätes liegt auf der Hand. Kurzentschlossen besetzen die Akteure
die im Hafen von Peenemünde vor Anker liegenden Schiffe. Im Vorfeld reißen sie
Teile der Umzäunung nieder, um sich den Zugang zu verschaffen.
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