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Und nach den Ferien mache ich eine Beatband auf

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1974: Gottes Vieh

Beherzte Hände greifen zu, doch ist es kein leichtes Unterfangen, dem hin- und

herpeitschenden Gummischlauch Herr zu werden. Raus mit dem Scheißding!

ist die Devise. Gehörig wird hierbei das Mobiliar der Klubgaststätte mit weißem

Schnee benetzt. Spritzer, die einige Besucher in ihre Augen bekommen, verursachen

schmerzhaft deren Reizung. Ein nach draußen eilender Gast bekommt eine Ladung

in den Rücken und zersetzt großflächig den Stoff seines Nylonanoraks bis das

Innenfutter sichtbar wird. Endlich hat man das Ding vor die Tür bugsiert. Und

immer noch spritzt es um sich. In der Einfahrt des Nachbargrundstücks soll es nun

ausbluten. Staunend sieht man zu, was jetzt geschieht. Der letzte Rest des Schaumes

der hier am Tor endet, lässt dessen Farbe buchstäblich vom Holz rinnen. Einige Tage

später wird sich der Jugendklubrat hier einfinden, um den Anstrich zu erneuern.

Aus der Tageszeitung »Volksstimme« nimmt die Band völlig ahnungslos davon

Kenntnis, am Vorabend des 1. Mai 1974 einen Tanzabend im »Treff« bestrei-ten zu

müssen. Die Clubleitung annoncierte ohne vorherige Absprache über den Köpfen

der Gruppe hinweg, diese Veranstaltung mit der »Hauskapelle«. Das musi-kalische

Potenzial lässt einen solchen sechsstündigen Gig bei weitem nicht zu. Man tritt erst

gar nicht an. Erst zum Frühschoppen finden sich die Musikanten im »Treff« ein. Die

Demonstration der Arbeiter- und Bauernklasse ist gerade gelaufen und man steht mit

der Bierflasche in der Hand, vor der Lokalität. Impulsiv kommt Micky auf die Idee

als bewusster Staatsbürger, etwas für die Gesellschaft zu tun. Sich als Vorsprecher

verstehend, ruft er lautstark: „Erich Honecker und die Partei- und Staatsführung

leben-“ und der langhaarige und in dieser Situation seltsam anmutende Chor

zahlreicher Kumpels fällt noch lauter ein: „Hoch-hoch-hoch!“ Abwechselnd in dieser

Weise würdigen sie nun die SED, die FDJ, die DSF, das MSF und den Papst in Rom.

Die auf der Straße anwesenden Bürger befinden sich in recht schizophrener Lage.

Während einige diese Situation belächeln, verstehen andere wiederum die Aktion

als äußerst respektabel. Ein Polizist kommt schließlich von der gegenüberliegenden

Straßenseite und verbittet sich diese Art von Patriotismus. Grimassenschneidend

ziehen sich die euphorischen Vaterlandsanbeter in ihren Treffpunkt zurück.

Micky muss, als Lehrling eher unüblich, eine Nachtschicht im Schönebecker

Traktorenwerk in der Barbyer Straße schieben. Freitagabend ab 21:30 Uhr steht er

hinter seiner Drehbank. An dieser wiederholen sich die Handgriffe, die Arbeit ist

mehr als monoton. Der neue Tag ist kaum zwei Stunden alt, da fallen dem Micky die

Augen zu und die Knie geben nach. Er droht im Stehen einzuschlafen. So begibt er

sich ins Freie, um seine Lungen mit frischer Luft zu füllen. Er quält sich weiter bis

kurz vor fünf. Dann geht nichts mehr. Er droht in die sich mit 1400 Umdrehungen

pro Minute rotierende Maschine zu fallen. Kurzerhand bringt er deren Hauptschalter

in die Nullstellung und stielt sich von dannen. Irgendwo im Dachgeschoss der

Produktionshalle findet er auf einer Bank einen lauschigen und ungestörten Platz.

Schnell kommt er in den Schlaf. Doch es gibt ein böses Erwachen! Vor dem Fenster

ist es taghell, in der Fertigungshalle finster. Keine Leuchtstoffröhre gibt ihr steriles

Licht. Der Maschinenpark ist stumm. Nicht eine Arbeiterseele weit und breit.

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