Wahlverhalten älterer Frauen. Alter, Geschlecht und ... - KOBRA
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9.12 Erfurt 2 Frau Bauer<br />
Frau Bauer, die 1932 geboren wurde, lebt in einem Vorort von Erfurt, der dörfliche Strukturen<br />
aufweist. Er ist umgeben von Gewerbegebieten <strong>und</strong> landwirtschaftlich genutzten Flächen, denen in<br />
einigen Abstand große Plattenbausiedlungen folgen. Frau Bauer bewohnt ein typisches Einfamilienhaus,<br />
das in seiner Inneneinrichtung, die deutlich von Ost-Interieur geprägt ist, dem Arbeitermilieu<br />
zuzuordnen ist. Die Interviewte verfügt im Monat über 900 Euro Rente. Sie lebt selbstständig<br />
<strong>und</strong> ohne die Notwendigkeit fremder Hilfe. Sie ist immer mal wieder für die Enkelkinder verantwortlich.<br />
Frau Bauer ist PDS Mitglied <strong>und</strong> seit 35 Jahren in der Ortsgruppe der Volkssolidarität<br />
aktiv, zuvor war sie seit 1955 SED-Mitglied. Sie ist katholisch <strong>und</strong> besucht zwei bis drei Mal im Jahr<br />
die Kirche. Darüber hinaus war sie während ihres Berufslebens auch gewerkschaftlich engagiert<br />
<strong>und</strong> ist heute noch Mitglied in der IG Bau. Frau Bauer hat Damenschneiderin gelernt <strong>und</strong> war ab<br />
1952 als Gr<strong>und</strong>schullehrerin tätig. Danach arbeitete sie zwanzig Jahre lang in einer Mosterei als<br />
Anlagenfahrerin <strong>und</strong> leitete dort eine <strong>Frauen</strong>brigade. Frau Bauer hat mit ihrem 1990 verstorbenen<br />
Mann fünf Kinder, die in den Jahren 1955 bis 1962 geboren wurden <strong>und</strong> bis auf eine, die Sozialarbeiterin<br />
ist, alle handwerkliche Berufe ausüben. Sie hat zwölf Enkelkinder, bei deren Betreuung<br />
Frau Bauer stark eingeb<strong>und</strong>en ist.<br />
Frau Bauer stammt aus einer Arbeiterfamilie mit klassischer Rollenteilung, der Vater war auf dem<br />
Bau tätig <strong>und</strong> die Mutter Hausfrau. Ihre zwei Jahre jüngere, 1999 verstorbene Schwester war Lagerverwalterin.<br />
Frau Bauer bindet in ihre Darstellungen keine Episoden aus ihrer Vergangenheit<br />
ein, sondern verwendet häufig Beispiele aus ihrem heutigen familiären Umfeld, also Erfahrungen<br />
ihrer Kinder <strong>und</strong> Enkel. An deren Leben nimmt Frau Bauer regen Anteil, vor allem durch ihre Verantwortung<br />
als Mutter <strong>und</strong> Großmutter. Darüber hinaus ist ihr Leben durch die Aktivitäten in ihrer<br />
näheren Umgebung, beispielsweise der Aktivität in der Volkssolidarität, geprägt. In das dörfliche<br />
Umfeld, in dem jeder jeden kennt, das aber eigentlich zu Erfurt gehört, ist sie durch ihr soziales<br />
Engagement fest integriert.<br />
Dieser eher parochiale Aspekt wird auch in ihrem politischen Verhalten deutlich. Sie hat schon,<br />
obwohl „zahlendes“ Mitglied der PDS, ihre Stimmen den Direktkandidaten anderer Parteien gegeben,<br />
da sie mit diesen persönlich bekannt oder anderweitig von deren Kompetenz <strong>und</strong> Glaubwürdigkeit<br />
überzeugt ist. Die heutige Welt beschreibt Frau Bauer als von anomischer Unsicherheit<br />
bestimmt, was sie vor allem an den Schilderungen der Unsicherheiten in den beruflichen Karrieren<br />
ihrer Kinder festmacht. Frau Bauer beschreibt die Veränderungen nach dem Ende der DDR eher<br />
kritisch. Für sie war die Entscheidung, Mitglied der PDS zu werden, auch ein Schritt hin zur andauernden<br />
Identifikation mit den guten Seiten der DDR.<br />
Während des Interviews zeigt sie gr<strong>und</strong>legendes Interesse an dem Interview. Sie schildert relativ<br />
emotionslos, mit einigen Verbalisierungsproblemen, bei denen unklar ist, ob sie dem Bemühen um<br />
sprachliche Exaktheit oder der ungewohnten Situation geschuldet sind, ihre Sicht der politischen<br />
Welt. Frau Bauer verwendet oft nonverbale Kommunikationsmittel, wie den Versuch durch intensiven<br />
Blickkontakt beispielsweise bei der Frage nach Merkels Kandidatur subtil zu kommunizieren.<br />
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