Wahlverhalten älterer Frauen. Alter, Geschlecht und ... - KOBRA
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FRAU SCHNEIDER: ... <strong>und</strong> .. Da haben sie ihn geholt. .. <strong>und</strong> .. <strong>und</strong> davor hatten wir, hat<br />
ich doch immer die Trecks, ich war auf dem Dorf. Und da haben wir die Trecks mit<br />
den Kindern da haben wir gesehen. Die Leute hatten kaum Kleidung an <strong>und</strong> dann im<br />
Winter, das war doch ganz schlimm. .. Und selber hatte man ja auch nichts .. das man<br />
das weggeben konnte.<br />
Diese Interviewsequenz war in vielfältiger Hinsicht bedeutsam. Während des gesamten Abschnitts<br />
war in der Interviewsituation deutlich spürbar, dass irgendetwas nicht stimmt. Die Befragte, die<br />
wegen ihres von keiner Theorie der Wahlforschung in irgendeiner Form berücksichtigten Motivs<br />
„dem Alten eins auszuwischen“, ein interessanter abweichender Fall einer Wechselwählerin war,<br />
offenbart nach <strong>und</strong> nach die Abgründe ihrer persönlichen Lebensgeschichte <strong>und</strong> der kollektiven<br />
Erfahrung. Die unbedarfte Frage nach der Rolle des Vaters klärt zunächst auf, dass es sich beim<br />
Vater nicht um ein Opfer des Nationalsozialismus handelt. Die für die Befragte traumatisierende<br />
Erfahrung, den Vater im Lager der Besatzungsmacht zu verlieren, wird nicht thematisiert. Stattdessen<br />
beschreibt die Befragte wiederum den Anblick der Trecks <strong>und</strong> ihrer eigenen Hilflosigkeit. Während<br />
dieser Sequenz sind beide Interviewbeteiligte emotional belastet. Die Befragte vermittelt nonverbal<br />
abrupt Unbehagen, blockt aber nicht ab oder versucht die Variante des Vaters als Opfers<br />
aufrechtzuerhalten. Der Interviewer erkennt die emotionale Aufgeladenheit der Situation, stellt<br />
einige der Zusammenhänge her <strong>und</strong> versucht einen Themenwechsel einzuleiten 151 .<br />
Diese Sequenz in einem der letzten Interviews der zweiten Feldphase hat schlagartig klargemacht,<br />
dass unbedarfte Fragen unerwartete Antworten zur Folge haben können. In diesem Fall hat die<br />
einfache Frage nach dem geringen Interesse an Politik einen komplexen Zusammenhang von Vater-<br />
Tochter-Beziehung, wechselnden Täter-Opfer-Konstellationen <strong>und</strong> der langfristigen Wirkungen<br />
aufgedeckt. Die Nachwirkung sind hier neben einem ungewöhnlichen <strong>Wahlverhalten</strong> das typische<br />
Muster der lebenslangen Distanz zur Politik 152 .<br />
Auch in anderen Interviews tauchen Erinnerungen an den Krieg unvermittelt auf. Frau Neumann<br />
(EF6_1) berichtet auf die Frage nach der Nachkriegszeit knapp.<br />
EF6_1 (197)<br />
INTERVIEWER: Und wie war das nach dem Krieg?<br />
151 Die Interviewsteuerung war nach dieser Situation das vorrangige Ziel. Eher intuitiv statt reflektiert wurde<br />
versucht Themen zu finden, die von dem vermuteten Trauma wegführen, <strong>und</strong> das Interview zu beenden. Im<br />
Nachgespräch macht die Befragte dann eine weitere Äußerung, die wieder mit dem Bild der Trecks assoziiert<br />
ist. Diese Sequenz war nicht durch Fragen des Interviewers provoziert, sondern erfolgte unvermittelt <strong>und</strong><br />
stellte einen Zusammenhang zu einmarschierenden russischen Soldaten her, was ich als Indiz für eine Vergewaltigungserfahrung<br />
interpretiere. Die Befragte vermittelt in dieser Situation das Gefühl reden zu wollen,<br />
während der Interviewer das Feld ohne Folgen für die Befragte verlassen möchte. An diesem Punkt war ich als<br />
Interviewer mit der Situation überfordert. Es war sehr deutlich, dass hier die eigenen Kompetenzen als Interviewer<br />
überschritten waren. Eine Fortsetzung des Interviews – also der Situation gefragt zu werden <strong>und</strong> antworten<br />
zu können – wäre möglicherweise der Wunsch der Befragten gewesen.<br />
152 Dieses Interview stellt in etwa wie den tiefsten Punkt der Suche nach Antworten auf die Fragestellung<br />
dieser Arbeit dar. Die Erfahrung der Interviewsituation hat, ganz im Sinn des idealtypischen qualitativen Forschungsprozesses,<br />
zusätzliche Aspekte der Forschungsfrage erhellt <strong>und</strong> zu einer Verstärkung des Interesses<br />
an der zeitgeschichtlichen Erfahrung geführt.<br />
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