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Hörspiel. Form und Funktion.

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der Avantgarde ist der Gegenspieler eines aktuellen Systems. Er ist eine Kritik an dem, was ist,<br />

ein Kritiker der Gegenwart - nicht ihr Apologet. Die Vergangenheit kritisieren ist leicht, vor allem,<br />

wenn die herrschende Macht einen dazu aufmuntert: es ist nur eine Festigung des aktuellen<br />

Zustands, eine Sanktion der Verkalkung, ein Nackenbeugen vor der Tyrannei <strong>und</strong> dem<br />

Althergebrachten.«<br />

Dieses Kriterium hat allerdings, vom Publikum aus gesehen, seine Schwierigkeiten.<br />

Bertolt BRECHT läßt den Epilogsprecher seines Parabelstückes »Der gute Mensch von<br />

Sezuan« (1942) die herausfordernden Worte an das Publikum richten:<br />

»Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruß: Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluß, Wir<br />

stehen selbst enttäuscht <strong>und</strong> sehn betroffen Den Vorhang zu <strong>und</strong> alle Fragen offen.«<br />

Diese Worte deuten einen <strong>Funktion</strong>swandel des Theaters <strong>und</strong> auch des <strong>Hörspiel</strong>s an,<br />

soweit es sich der offenen <strong>Form</strong> bedient.<br />

Das absurde Stück spricht ein kleines, aber höchst reagibles Publikum an: Ein Teil dieser<br />

Elite hört auch gelegentlich <strong>Hörspiel</strong>e, Dokumentarsendungen <strong>und</strong> Radio-Essays im<br />

Dritten Programm oder im Sonderprogramm für Anspruchsvolle. Man wagt die<br />

Konfrontierung mit der Unverständlichkeit, der Fragwürdigkeit des Lebens. Deutung wird<br />

meist zur Mißdeutung.<br />

Die breite Masse der R<strong>und</strong>funkhörer dagegen erwartet, daß man ihr einen Weg weise<br />

durch das Chaos oder einen Ausweg aus ihm. Daß dieser Weg nicht durch die letzten<br />

Tiefen möglicher Erkenntnis führen kann, daß er also niemals objektiv gültig, sondern<br />

immer nur subjektiv einleuchtende Hypothese sein kann, kümmert sie wenig. Sie, die<br />

Vielen, leben nicht im Morgen, sie wollen irgendwie mit der Gegenwart fertig werden,<br />

soweit sie sie berührt. Das schließt nicht aus, daß auch viele <strong>Hörspiel</strong>autoren, die bewußt<br />

für das Massenkommunikationsmittel als ein solches arbeiten, die Forderung beherzigen,<br />

der Zuschauer solle nicht mehr nur nachempfinden, sondern auch nachdenken. Die große<br />

Chorszene aus Mattias BRAUNS »Troerinnen« enthält den dreimaligen Appell an das<br />

Publikum: »Sagt ihr, ob das recht ist!«, dem kein dreifaches »Nein!« antworten darf, weil<br />

die Fragen Fangfragen sind. Schillers Erfahrung von der siegenden Macht des sittlichen<br />

Gesetzes überzeugt die junge Generation nicht mehr, die individuelle Heldentat ist für sie<br />

fragwürdig geworden, das heroische Leitbild verleiht ihr keine Zuversicht mehr. Dennoch<br />

ist in vielen eine Sehnsucht wachgeblieben oder erst geweckt worden, das beweist etwa<br />

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