Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

wenige Kinder besuchten monatelang keinen Unterricht, ein oder zwei Kinder
besuchten sogar jahrelang keinen Unterricht.
Neills Einstellung zum Lernen ging aber über die Freiheit, zu lernen oder
nicht zu lernen, weit hinaus. Neill sah häufig seine eigenen Vorlieben und
Abneigungen als die aller Kinder an und konnte sich nicht vorstellen, daß sie
einen anderen Geschmack haben könnten. Neill selbst hatte offenbar in der
eigenen Kindheit und auch an der Universität eine heftige Abneigung gegen
Schullernen und Unterricht erworben und war überzeugt, daß Bücher das
unwichtigste in einer Schule sind, daß jede Art von Buch-Lernen für Kinder
gefährlich sei und daß sie eigentlich jeden Unterricht hassen müßten. Dementsprechend
legte er auf Unterricht, Bücher und Lesen absolut keinen Wert.
Es interessierte Neill auch nicht, was die Kinder im Unterricht lernten, und er
würdigte die Unterrichts-Produkte, die begeisterte Kinder ihm stolz zeigten,
keines Blickes 380 . Wenn Neill ein Kind lesen sah, konnte es durchaus vorkommen,
daß er das Buch konfiszierte und das Kind aufforderte, etwas zu
tun 381 . Auch im Englischunterricht erschwerte sein unbezwingbarer Haß auf
Shakespeare (den er im Anglistikstudium als reinen Pauk- und Prüfungsstoff
kennengelernt hatte) den Schülern das Lernen.
Er kritisierte Shakespeare-Stücke in Schulen, da sie den Kindern nicht entsprächen
und sie nicht interessierten. Allerdings kam es in Summerhill vor,
daß Kinder von Macbeth so begeistert waren, daß sie unbedingt dieses (und
kein selbstgeschriebenes) Stück beim Trimester-Abschluß aufführen wollten,
und auch darauf bestanden. Neill verlegte es als zu beschämend auf den Tag
vor dem offiziellen Trimesterabschluß, woraufhin die Kinder ihre Eltern
(heimlich) ebenfalls einen Tag früher einluden 382 .
Es war mehr als verständlich, daß keinesfalls nur reaktionäre, kinderfeindliche
und karrierebesessene Eltern sich Sorgen über die Schulbildung machten.
Homer Lanes Witwe Mabel etwa schrieb im März 1927 besorgt, daß Olive
Lane 383 in Summerhill zwar glücklich sei, aber noch immer nicht
380 „The only thing I used to get annoyed about was that he'd come round and talk to them
and say hallo, and they'd say, ‚Show Neill what we've done in lessons,‘ and he wouldn't
look at it. And I'd say, ‚Oh, Neill! I wish you'd be interested in what you're doing. You
seem to think that all children hate lessons!‘“ (Die Lehrerin Lucy Francis in Croall 1984:
209)
381 „I noticed half a dozen times that when Neill saw a child sitting reading, he would snatch
the book from his or her hands, declare it confiscated, and order the child to ‚go and do
something‘.“ (Ein Summerhill-Beschäftigter in Croall 1984: 210)
382 „‚We don't have to do it‘, they said, ‚we want to do it.‘ I told Neill, and he said, ‚Oh,
lord! Well, we can't have it for the official end-of-term show, I'd be too much ashamed.
We'll have it the day before.‘ The children of course all wrote home, and their parents
came a day early.“ (Die Lehrerin Vivien Morton in Croall 1984: 214)
383 Eines der Kindergartenkinder des knapp 9 Jahre zuvor 1918 geschlossenen Kindergartens
des Little Commonwealth. Olive Lane dürfte also zumindest 12 Jahre alt gewesen sein,
vermutlich einige Jahre älter.
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