Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

sich mit groben Annäherungen begnügen, und auch die können in den Einzelheiten
falsch sein.
Die Einschätzungen Makarenkos in der Literatur sind extrem uneinheitlich
und widersprüchlich. Sie schwanken zwischen dem von seinen Zöglingen geliebte
und verehrte Erzieher und Selbstverwaltungspraktiker, dem größten
Humanisten des Jahrhunderts 508 einerseits und einem Pädagogischen Stalin,
dessen Pädagogik (wenn auch großenteils erst nach seinem Tod) entscheidend
zur Verdrängung der freien frühsowjetischen Reformpädagogik und zur Stalinisierung
der Erziehung beigetragen hat, andererseits. Ebenso zwischen dem
autoritären Militaristen mit atavistischen Strafritualen und dem intuitiv psychoanalytisch
handelnden Reformpädagogen.
Makarenko erscheint als extrem vielschichtige und widersprüchliche Gestalt,
manchmal vielleicht auch einfach als inkonsequent oder unehrlich. Die
einzelnen gegensätzlichen Teile sind kaum miteinander in Beziehung zu bringen,
passen nicht zueinander, stehen unvermittelt nebeneinander und je nachdem,
welchen Teil man gerade betont, entstehen ganz unterschiedliche und
direkt gegensätzliche Bilder, die alle irgendwie auch richtig sind und für die
sich jeweils Belegstellen und gute Gründe angeben lassen. Eine Bewertung
Makarenkos erscheint mir beim derzeitigen Kenntnisstand äußerst schwierig.
Makarenko scheint zumindest anfangs oft ohne ein klar erkennbares Prinzip
pragmatisch von Fall zu Fall entschieden zu haben, zumindest ist in vielen
seiner gegensätzlichen Verhaltensweisen für mich keine klare Entwicklungslinie
erkennbar 509 .
Makarenkos pädagogisch-psychologische Vorstellungen entsprechen einer
recht traditionellen, vor-psychoanalytischen reinen Bewußtseins- und Willens-Psychologie
und gehen über Alltagsvorstellungen kaum hinaus. Als
508 Unter Verweis auf beträchtliche reformpädagogische Anteile bei Makarenko schreibt
Kumarin sogar (1990: 75; sicher sehr übertreibend), daß nur Makarenko gegen die stalinistische
Schulpraxis an den alten Leninschen pädagogischen Prinzipien festgehalten habe.
Und: „Man muß einfach gewissenlos sein, den größten Humanisten unseres Jahrhunderts
als Stalinisten zu beschuldigen.“ (Kumarin 1990: 81)
509 Einerseits forderte er ganz allgemein den striktesten Gehorsam gegenüber der Parteilinie,
andererseits kümmerte er sich selbst nur wenig um offizielle Beschlüsse und Anordnungen.
Mal erhielt eine Braut aus der Gorki-Kolonie eine enorm umfangreiche Aussteuer, ein
halbes Jahr später erhielt ein Bräutigam (ohne stichhaltige Begründung) gar nichts und
wurde, als er gleiches Recht forderte, aus der Kolonie gejagt (vgl. Makarenko 1970: 357
f., 391 - 396, vgl. 351 ff.).
Zunächst erklärte er es als prinzipiell zu schwierig, die Genehmigung zum Hinauswurf
aus der Kolonie zu erlangen (Makarenko 1970: 114), doch dann warf er in vielen Einzelfällen
Jugendliche aus der Gorki-Kolonie, und später in der Dzierzynski-Kommune erklärte
er, Diebe würden grundsätzlich aus der Kommune geworfen, darum gebe es dort
keinen Diebstahl. „Diese Härte ist die große Humanität“ (Makarenko 1974: 444).
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