Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

4.6.1. Allgemeine politische Rahmenbedingungen
Selbstbestimmung und radikale Demokratie sind immer ein Politikum, und
insofern sind Kinderrepubliken durchaus hochpolitische Einrichtungen. Wesentliche
Existenzbedingung ist eine staatliche und gesellschaftliche Duldung
der Republik und ihrer Pädagogik. Republiken waren zumindest noch vor einigen
Jahrzehnten eine sehr praktische Bedrohung traditioneller Erziehungskonzeptionen
und Anstaltshierarchien und bedrohten das Selbstverständnis
und die Stellung der in traditionellen Anstalten Tätigen, stellten das ganze
übliche Erziehungs-Paradigma geradezu auf den Kopf und untergruben mit
Demokratie- und Gleichheitsvorstellungen auch die Legitimitätsgrundlage des
Kaiserreiches und die fraglose Höherrangigkeit der Großgrundbesitzerkaste
(Adel) und der Unternehmerkaste etc. (Adelsvorrechte, preußisches Dreiklassenwahlrecht)
53 .
Die - auch internationalen - Kinderrepubliken der insbesondere deutschen
und österreichischen Kinderfreunde wurden erst nach der Novemberrevolution
überhaupt möglich, und wenige Jahre später wurden sie durch den Faschismus
wieder weitestgehend unmöglich gemacht, viele ihrer tragenden
Persönlichkeiten wurden durch Faschismus und Krieg vertrieben oder getötet
(Löwenstein, Kanitz, Papanek). Ihre Einrichtungen wurden zerstört, die von
Papanek erzogenen (jüdischen) Kinder zum Teil in Vernichtungslager deportiert.
Ähnlich erging es Janusz Korczak (der ebenfalls mit Selbstverwaltung
arbeitete) und seinen Kindern 54 .
Behörden und Öffentlichkeit müssen hinreichend geneigt sein, nicht nur
formale Selbstregierung, sondern auch ein freiheitliches pädagogische Konzept
zu akzeptieren. Wobei zumindest in den heutigen Industrieländern das
parlamentarische Gremium weniger Anstoß erregen dürfte und das Problem
eher bei den Disziplin- und Ordnungsvorstellungen, dem Verzicht auf weltanschaulich-bekenntnismäßige
Beeinflussung, auf nationale, rassische und geschlechtliche
Diskriminierung liegt. Weltanschauliche Neutralität, Koedukation
und Sexualerziehung dürften im Heimbereich noch immer keine Selbstverständlichkeit
sein.
53 Bourdons Heim wurde 1795 in der Reaktionszeit von der Direktoriumsregierung aufgehoben
(vgl. Kapitel 9).
54 Grund der Vernichtung der Einrichtungen war sicher nicht die Selbstregierung, sondern
(neben rassischen Gründen) ganz allgemein die ganze Richtung progressiver Erziehung.
Auch andere Reformer flohen: Geheeb in die Schweiz, Wilker (der sich im Lindenhof an
George und Lane orientierte) nach Südafrika, Papanek in die USA, Lennhoff nach England.
Im Schutze der bewaffneten französischen Widerstandsbewegung war eine Kinderrepublik
dagegen möglich, und direkt hinter der vorrückenden alliierten Front bildeten sich
gegen Ende des 2. Weltkrieges wiederum etliche Kinderrepubliken (siehe Kapitel 22).
79