Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

Die Heime tragen die unterschiedlichsten Bezeichnungen: Kolonie, Lager,
Kommune, Kinder-, Jugend-, Junior-, Jungen- oder Mädchenstädte oder
-dörfer, -siedlung, Republik, Commonwealth, Schulgemeinde, Schulstaat,
Erziehungsstaat, oder auch einfach Kindergemeinschaft. Und das alles ebenfalls
in unterschiedlichen Sprachen. Die Bezeichnungen sind beliebig. Allerdings
ist nicht jedes Kinderdorf eine Kinderrepublik, und die Bordellvorstädte
an der mexikanisch-texanischen Grenze heißen ebenso boys town wie Pater
Flanagans berühmtes Erziehungsheim, und bei Republiken wie der Republik
Schkid (Belych & Pantelejew 1929) bleibt unerfindlich, warum sich dies
Heim Republik nennt.
Daß nicht weiter zwischen Sommerzeltlagern und Jugendgefängnissen unterschieden
wird, bedarf der Begründung. Es geht selbstverständlich nicht um
normale Gefängnisse, sondern um ungewöhnliche und sehr freie Modelleinrichtungen,
die aber formal als Reformatory eingestuft werden.
Die offizielle Einordnung eines Heimes erscheint hier völlig bedeutungslos.
Das Kriegsevakuierungsheim Barns etwa nahm gezielt nur solche
Kinder auf, die wegen ihres Betragens nirgendwohin anders mehr evakuierbar
waren. Jedes dieser Kinder hätte man von seinen Symptomen her auch in ein
Fürsorgeheim stecken können. Wills (1945) zeigt hier deutlich, daß die Jugendlichen
in all diesen verschiedenen Heimen im wesentlichen dem gleichen
Personenkreis entstammen und meist gleichzeitig ganz unterschiedliche
Symptome aufweisen. Ein Kind kann etwa gleichzeitig zu Hause unregierbar
sein, gewohnheitsmäßig lügen, gelegentlich ausreißen, die Schule schwänzen
und stehlen, in der Schule versagen und ins Bett nässen. Dann ist es reiner
Zufall, ob das Kind schneller vom Kaufhausdetektiv als Dieb entdeckt und
klassifiziert wird, oder vom Lehrer und Schulpsychologen als Schulversager,
von der Schulverwaltung als Schulschwänzer, oder von der Erziehungsberatungsstelle
als Neurotiker, oder von der Polizei als Landstreicher und Ausreißer
aufgegriffen wird. Und auch der rechtliche Oberbegriff Verwahrlosung ist
so unbestimmt, daß er auf alle fünf Fälle passt.
Man kann ganz pauschal davon ausgehen, daß Heimjugendliche, Ferienheimkinder
einmal ausgenommen, in irgendeiner Art in ihrer emotionalen
Entwicklung gestört wurden, und daß sie dann gestört, neurotisch, delinquent,
unangepasst, verwahrlost oder schwierig sind. Ob diese Störung nun durch
den Verlust der Eltern (durch Mord, Krieg, Hungern, Seuchen, Scheidung,
Desertion, Nichtehelichkeit, Herumschieben in der Verwandtschaft etc.) oder
andere traumatische Erlebnisse (Krieg, Flucht, Nazi-Verfolgung, lieblosbrutales
Elternhaus etc.) entstanden ist, ist zweitrangig 24 und nur ei-
24 obwohl es selbstverständlich in der praktischen Behandlung der Kinder durchaus eine
Rolle spielt!
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