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Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

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Geld für seine wissenschaftlichen Forschungen zusammenzubringen.“ (Neill 1982:<br />

174)<br />

Im Gegensatz zu den Freudianern hielt Reich (und übrigens auch Lane) Neurosen<br />

grundsätzlich für vermeidbar. Der Konflikt zwischen den Ansprüchen<br />

<strong>der</strong> natürlichen Trieb<strong>aus</strong>stattung und denen <strong>der</strong> Gesellschaft erschien ihm<br />

nicht (wie Freud meinte) unbedingt notwendig, son<strong>der</strong>n minimierbar, indem<br />

die Gesellschaft Freiheit gewährt und Kin<strong>der</strong> ohne Zwang und Gewalt erzogen<br />

werden. Durch den Abbau gesellschaftlicher Zwänge (also Gesellschaftsverän<strong>der</strong>ungen)<br />

ließe sich vorbeugen: Individuen und Familien sollten von<br />

<strong>der</strong> bisherigen wirtschaftlichen und sexuellen Unterdrückung befreit werden<br />

durch die Abschaffung <strong>der</strong> patriarchalischen Familie und Zwangsehe. Stattdessen<br />

sollten Frauenemanzipation und Sexuelle Revolution (Buchtitel<br />

Reichs), Trieb- und Sexualbejahung, eine an<strong>der</strong>e gesellschaftliche Organisation<br />

(Arbeitsdemokratie), eine freiheitliche sexualitätsbejahende Kin<strong>der</strong>erziehung,<br />

Sexualaufklärung und sexuelle Befreiung von vornherein vorbeugen<br />

gegen die Entstehung <strong>der</strong> emotionalen Pest bzw. des Todestriebes, und so eine<br />

(nachträgliche) Therapie überflüssig machen<br />

Die Begegnungen mit zwei her<strong>aus</strong>ragenden Praktikern freier Kin<strong>der</strong>erziehung,<br />

<strong>Wer</strong>a Schmidt 424 und A. S. Neill, ermutigten Reich in seinen Prophylaxe-Hoffnungen.<br />

424 Reich reiste im September 1929 in die Sowjetunion, in <strong>der</strong>en Sexual- und Familiengesetzgebung<br />

viele <strong>der</strong> Reichschen For<strong>der</strong>ungen bereits verwirklicht waren, bevor sie unter<br />

Stalin rückgängig gemacht wurden. Reich kritisierte hier die moralistische Haltung <strong>der</strong><br />

meisten Kin<strong>der</strong>einrichtungen Rußlands, die sich kaum von <strong>der</strong> in kapitalistischen Län<strong>der</strong>n<br />

unterschied. Eine große Ausnahme war das von <strong>Wer</strong>a Schmidt geleitete Kin<strong>der</strong>heim-Laboratorium<br />

in Moskau, das Reich besuchte.<br />

<strong>Wer</strong>a (auch: Vera) Schmidt leitete während <strong>der</strong> relativ liberalen Erziehungspolitik vor <strong>der</strong><br />

Stalin-Ära das psychoanalytisch orientierte Kin<strong>der</strong>heim-Laboratorium in Moskau. Hier<br />

wurde eine an weitestgehen<strong>der</strong> Triebbefriedigung und Freiheit orientierte Kollektiverziehung<br />

(d. h. Gruppen-Erziehung) mit dreißig 1 - 5jährigen Kleinkin<strong>der</strong>n versucht. „Reich<br />

fand in diesem Kin<strong>der</strong>heim die erste praktische Demonstration des von ihm vertretenen<br />

Grundsatzes <strong>der</strong> kindlichen Selbststeuerung vor“ (Boadella 1983: 76). Beurteilt wurden<br />

hier nur die Handlungsergebnisse, nicht die Kin<strong>der</strong> selbst. Es gab keinerlei Strafen o<strong>der</strong><br />

moralische Beurteilungen.<br />

Auch hier kam es rasch zum sexuell-politischen Skandal: Das am 21.8.21 gegründete<br />

Heim wurde nach drei Monaten aufgrund von dramatischen sexuellen Gerüchten Gegenstand<br />

einer offiziellen mehrmonatigen Untersuchung, bei <strong>der</strong> sich die eine Hälfte <strong>der</strong><br />

Gutachter sehr lobend, die an<strong>der</strong>e Hälfte sehr ablehnend äußerte (anscheinend ging es<br />

dabei um <strong>Wer</strong>t und Unwert <strong>der</strong> Psychoanalyse an sich). Daraufhin sollte die Einrichtung<br />

unter technischen Vorwänden vom Ministerium geschlossen werden, sie wurde jedoch ab<br />

April 1922 in verkleinerter Form von deutschen und russische Bergarbeiterverbänden<br />

und dem neugegründeten staatlichen Institut für Psychoanalyse übernommen und vom<br />

Ministerium 1922 noch zweimal positiv begutachtet. Unter dem Druck ihrer Gegner<br />

mußte <strong>Wer</strong>a Schmidt schließlich das Kin<strong>der</strong>heim-Laboratorium schließen.<br />

Zu Reichs Besuch vgl. Boadella (1983: 75 - 77), vgl. auch die Broschüren von <strong>Wer</strong>a<br />

Schmidt (1924, o.J.).<br />

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