Johannes-Martin Kamp Kinderrepubliken - Wer nichts aus der ...

„Mit dem steigenden Selbstbewußtsein, das auf der ihm gewährten weitgehenden Unabhängigkeit
seiner Erziehungsarbeit und auf der erfolgreichen ‚Eroberung‘ von
Kurjash beruhte, wuchs indessen auch Makarenkos Drang, sein Modell auf andere
Kolonien auszubreiten. Trotz der sich verstärkenden Spannungen mit den Gegnern
seiner Erziehungskonzeption wurde ihm im Sommer 1927 durch die Vermittlung seiner
späteren Frau 521 die Reorganisation aller im Bezirk Charkow liegenden Arbeitskolonien
übertragen, für die Makarenko den Plan eines ‚Kinderarbeitskorps‘ entwarf,
dessen Leitung er selbst übernehmen wollte. Seine Inspektionstätigkeit schuf ihm
neue Feinde, aber sein Ruf als Organisator machte ihn auch mit der Leitung der
ukrainischen GPU bekannt, die im April 1927 beschlossen hatte, in Erinnerung an
den Gründer der ‚Tscheka‘, F. E. Dsershinskij, eine eigene Kinderarbeitskommune zu
errichten und Makarenko die Leitung anzutragen, die er im Oktober 1927 übernahm.
Die erste Hälfte des Jahres 1928 brachte den Bruch Makarenkos mit dem ukrainischen
Volkskommissariat für das Bildungswesen und der dort vertretenen Erziehungstheorie.“
(Anweiler 1963: 275 - 276) und einige Monate später auch Makarenkos
Entlassung.
In seinen Schriften, die jedoch sämtlich erst nach seiner Entlassung erschienen,
stellte sich Makarenko von Anfang an als mißtrauischer Gegner der
Aufmerksamkeit gewidmet. Vascenko äußerte Sorge, weil Konferenzteilnehmer vielfach
positiv auf Makarenkos Strafvorstellungen reagierten, wohl weil sie hier die Chance sahen,
zu ihren bewährten alten Methoden zurückzukehren (vgl. Hillig 1979).
Ein späteres Beispiel für Makarenkos Argumentationsweise:
„Ebenso gibt es in der Kommune fast keinen Diebstahl, weil alle das Gesetz der Kommune:
Diebstahl gibt es nicht, denn eine halbe Stunde später kannst du schon aus der Kommune
geflogen sein, genau kennen. Für die Kommune geht es hier überhaupt nicht um
die Erziehung der Persönlichkeit, sondern es geht um Lebensprobleme jedes Kollektivs,
denn anders kann ein Kollektiv nicht leben.
Pädagogische Theorien, die zu beweisen versuchen, daß man einen Flegel nicht auf den
Korridor und einen Dieb nicht aus der Kommune jagen darf (‚Sie sollen ihn bessern und
nicht hinausjagen‘) - sind Geschwätz eines bürgerlichen Individualismus, der an Dramen
und ‚seelische Erlebnisse‘ der Persönlichkeit gewöhnt ist und nicht sieht, wie deswegen
Hunderte von Kollektiven zugrunde gehen, als ob diese Kollektive nicht aus ebensolchen
Persönlichkeiten bestünden!
Die Dzierzynski-Kommune verbietet Diebstahl ganz kategorisch, und das weiß jeder einzelne
genau und wird weder die Interessen des Kollektivs noch die eigenen aufs Spiel setzen.
Deshalb kommt Diebstahl in der Kommune kaum vor, jedenfalls werden bei uns für
Diebstahl keine Strafen mehr verhängt. Wenn bei einem Neuen, der noch nicht imstande
ist, die Interessen des Kollektivs als seine eigenen zu empfinden, ein Diebstahl vorkommt,
sagt man zu ihm: ‚Sieh zu, daß es das letztemal war.‘ Kommt aber der Diebstahl
zum zweitenmal vor, dann stellt das Kollektiv unbedingt die Frage seines Ausschlusses.
Diese Härte ist die große Humanität, die man einem Menschen erweisen kann. Dieses
Problem wird mit arithmetischer Genauigkeit gelöst. Einen Dieb im Kollektiv belassen
bedeutet unbedingt, den Diebstahl zu fördern,“... (Makarenko 1974: 444)
521 „Makarenko heiratete 1927 die Vorsitzende der Kommission für minderjährige Rechtsverletzer
in der Charkower Bezirksabteilung für Volksbildung, Galina Stachievna Sal'ko
(1891 - 1962), die nach seinem Tode die Ausgabe seiner Schriften betreute.“
(Originalfußnote bei Anweiler)
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