Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung Transnationales Lernen
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Praxis nie<strong>der</strong>geschlagen hat. 257 Gerade für das ethische Anliegen <strong>der</strong> Holocaust<br />
Education – für eine Reflexion darüber, was es bedeutet, die Entscheidung zu treffen,<br />
nicht zuzuschauen – eignet sich Hilbergs Kategorie <strong>der</strong> „Bystan<strong>der</strong>“ sehr gut. An ihr<br />
lassen sich Handlungsoptionen und moralische Fragen diskutieren. Im deutschsprachigen<br />
Raum sind diese Kategorien in den letzten Jahren – wohl über die Rezeption<br />
und Implementierung <strong>der</strong> Holocaust Education – in Unterrichtsmaterialien und<br />
geschichtsdidaktische Texte eingegangen. Hier verbinden sie sich mit <strong>der</strong> oben<br />
beschriebenen geschichtsdidaktischen Kategorie <strong>der</strong> „Multiperspektivität“. 258<br />
Die Frage ist nun, inwieweit sich die Anliegen <strong>der</strong> Holocaust Education verän<strong>der</strong>n,<br />
wenn sie in den postnazistischen Kontext übertragen werden. Was heißt die<br />
Frage, wenn die beiden Satzteile „Facing History“ und „Ourselves“ nicht mehr zwei<br />
verschiedene Aspekte historischen <strong>Lernen</strong>s bezeichnen, son<strong>der</strong>n insofern miteinan<strong>der</strong><br />
verstrickt sind, als mit <strong>der</strong> historischen Auseinan<strong>der</strong>setzung die Geschichte <strong>der</strong><br />
eigenen Familien adressiert wird? Günther Jacob macht darauf aufmerksam, dass<br />
unter den Bedingungen des nazistischen Erbes die Frage „was hättet ihr getan“<br />
möglicherweise mehr mit Empathie verbunden ist als mit Aktivierung. So spricht er<br />
von einer „Rhetorik <strong>der</strong> Einfühlung“, die mehr Verständnis als Verstehen hervorruft.<br />
259 Auch handelt es sich bei <strong>der</strong> Frage um einen im postnazistischen Kontext<br />
etwas problematischen Konjunktiv: Hannah Arendt konstatierte den beliebten Einsatz<br />
einer solchen grammatikalischen Möglichkeitsform bereits 1950 in ihrem „Bericht<br />
aus Deutschland“. Sie macht deutlich, dass diese die tatsächlichen Verbrechen in<br />
potentielle verwandelt: „Aus <strong>der</strong> Wirklichkeit <strong>der</strong> Todesfabrik wird eine bloße<br />
257 Der Historiker Raul Hilberg etablierte die Kategorien „Täter, Opfer und Zuschauer“ in seinem Buch „Perpetrators,<br />
Victims, Bystan<strong>der</strong>s: The Jewish Catastrophe 1933–1945“, das 1992 in den USA erschien und im Kontext<br />
<strong>der</strong> Holocaust Education stark rezipiert wurde; die Materialien nehmen oft direkt auf Hilberg Bezug. So widmet<br />
sich etwa das Kapitel 8 von „Facing History and Ourselves“ dem Thema „Bystan<strong>der</strong>s and Rescuers“.<br />
http://www.facinghistory.org/bystan<strong>der</strong>s-rescuers-0 (20.01.2012).<br />
258 Vgl. z. B. Wolf Kaiser, Die Shoah in <strong>der</strong> Erwachsenenbildung, in: „Wie sagen wir es unseren Kin<strong>der</strong>n?“ Die<br />
Behandlung <strong>der</strong> Schoah im schulischen Unterricht, Evangelischer Pressedienst 4–5/2006, S. 75–82, hier<br />
S. 81 f., o<strong>der</strong> Andreas Schmoller, Vermittlung am historischen Ort. Perspektiven <strong>der</strong> BesucherInnenbetreuung<br />
an <strong>der</strong> KZ-Gedenkstätte und im Zeitgeschichte-Museum Ebensee, in: Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen,<br />
S. 163–173, hier S. 169.<br />
259 Vgl. Günther Jacob, „Empathie und Erbe“. In: Wolfgang Schnei<strong>der</strong> (Hg.), Wir kneten ein KZ. Aufsätze über<br />
Deutschlands Standortvorteil bei <strong>der</strong> Bewältigung <strong>der</strong> Vergangenheit, Hamburg 2000, S. 20–27, hier S. 22:<br />
„Mit <strong>der</strong> „Erinnerungskultur“ hat sich im wie<strong>der</strong>vereinigten Deutschland ein neuer Phantasieraum für kollektive<br />
mentale Empfindungen gebildet. In diesem Raum hat die Frage ‚Wie hätte ich damals gehandelt?’, die man<br />
dem psychoanalytischen Konzept <strong>der</strong> Gegenübertragung entlehnt hat, eine zentrale Bedeutung. Die Rhetorik<br />
<strong>der</strong> Einfühlung hat, seit die Zeit gekommen ist, das materielle und politische Erbe anzutreten, Konjunktur. (...)<br />
Das Element <strong>der</strong> privaten Partikularität verschiebt die Wahrnehmung. Aus dieser Perspektive kann nicht mehr<br />
gefragt werden, warum jemand vor Stalingrad lag. Erzählt wird nur noch, wie sich jemand dort gefühlt hat. Der<br />
Sohn weiß von <strong>der</strong> Mutter, daß <strong>der</strong> Vater beim Einmarsch <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> alle Dokumente vernichtet hat. Der<br />
Sohn geht in die Ausstellung, wo er sich ‚in die Fotos hineinversetzt’: ‚Ich versuche mir eben vorzustellen, was<br />
in den Menschen, die da stehen, vorgeht’ (Besucher einer Ausstellung). Er meint die Soldaten.“<br />
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