Susanne Hehenberger / Unkeusch wider die Natur
Susanne Hehenberger / Unkeusch wider die Natur
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Gallin mit Misstrauen und Beobachtung zu rechnen. Isaak Löbl wurde aufgrund seiner<br />
ethnisch-religiösen Zugehörigkeit als doppelt fremd wahrgenommen. Als jüdischer<br />
Hausierer musste er auffallen: er betete und ruhte am Sabbat, er kochte sich<br />
selbst in den christlichen Gaststuben. Das ständige Umherziehen zeichnete sich in<br />
der zerschlissenen Kleidung sowohl des Hausierers als auch der Tagelöhnerin ab.<br />
Magdalena Gallin besaß bei ihrer Festnahme weder Strümpfe noch Schuhe. KeineR<br />
von beiden hatte zum Zeitpunkt der Verhaftung einen festen Wohnsitz. Das gemeinsame<br />
Umherziehen des jüdischen Hausierers und der katholischen Tagelöhnerin<br />
ließ sich auch leicht kriminalisieren: Grenzüberschreitung ohne Pass, verbotener<br />
Hausierhandel sowie Verdacht auf Ehebruch und Sodomie lauteten <strong>die</strong> Vorwürfe.<br />
Die Handlungsspielräume vor Gericht wurden im Laufe des Prozesses für alle<br />
Beteiligten geringer: der Landgerichtsverwalter musste das Verfahren zu Ende bringen,<br />
<strong>die</strong> Angeklagten mussten ihren Geschichten Kohärenz verleihen. Das gelang<br />
Isaak Löbl offenbar besser als Magdalena Gallin. Dennoch: obwohl Isaak Löbl<br />
während des gesamten Verfahrens nicht eine der von seiner Mitinhaftierten geschilderten<br />
sexuellen »Avancen« bestätigte und Magdalena Gallin aufgrund ihres<br />
schlechten Leumunds und ihrer Vorstrafen <strong>die</strong> schlechteren Karten in der Hand<br />
hatte, wurden beide zum gleichen Strafmaß verurteilt. Ein christlicher Mann wäre<br />
an Isaak Löbls Stelle mit sehr großer Wahrscheinlichkeit freigesprochen worden.<br />
Auch wenn Isaak Löbl persönlich kein sexuelles Delikt nachzuweisen war, belastete<br />
ihn das Konstrukt des »geilen Juden«. Vom Standpunkt Magdalena Gallins<br />
betrachtet, stellt sich <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong> von ihr geschilderten sexuellen Übergriffe<br />
ernster genommen worden wären und vielleicht sogar zu einer Verurteilung Isaak<br />
Löbls wegen »Nothzucht« geführt hätten, wenn sie keine Vorstrafen und einen besseren<br />
Leumund gehabt hätte. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist eher gering. Bei der<br />
Analyse von Inzestprozessen aus dem selben Gebiet stellte ich fest, dass in zwei von<br />
23 gerichtlichen Verfahren <strong>die</strong> angeklagten Frauen explizit von sexueller Gewalt<br />
seitens ihrer männlichen Verwandten sprachen. Es gelang aber keiner der beiden<br />
Frauen, eine Verurteilung ihres Verwandten wegen »Nothzucht« durchzusetzen<br />
(<strong>Hehenberger</strong> 1999:112-117). Wie auch Maren Lorenz (Lorenz 1994:334) und<br />
Ulinka Rublack (Rublack 1995:187; 1998:15) gezeigt haben, zählte sexuelle<br />
Gewalt für Mediziner und Juristen im 18. Jahrhundert nur dann, wenn sie mehr als<br />
deutliche Spuren hinterließ.<br />
Wesentlich für den hier vorgestellten Gerichtsprozess waren <strong>die</strong> Stigmatisierungsmöglichkeiten,<br />
<strong>die</strong> sich aus der ethnisch-religiösen Zugehörigkeit des Inquisiten,<br />
der Nichtsesshaftigkeit beider Angeklagten und der vorherrschenden<br />
Geschlechterordnung ergaben.<br />
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