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33. Sitzung - Deutscher Bundestag

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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991 2643<br />

Konrad Weiß (Berlin)<br />

können, wird immer geringer. So habe ich eine <strong>Sitzung</strong><br />

des Petitionsausschusses erlebt, in welcher in<br />

neunzig Minuten einschließlich zweier Anhörungen<br />

und der Beratung über 83 Eingaben, bei denen die<br />

Anträge der Berichterstatter hinsichtlich der Art der<br />

Erledigung übereinstimmten, insgesamt 123 Petitionen<br />

dank der akrobatischen Fähigkeiten unseres Vorsitzenden<br />

behandelt wurden.<br />

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und<br />

der SPD)<br />

Von einer intensiven und sachgerechten Prüfung der<br />

Anliegen kann man trotz allen gerechten Bemühens,<br />

das ich allen Beteiligten bescheinige, unter diesen<br />

Umständen nicht mit reinem Gewissen sprechen.<br />

Zweifellos sollten sich mehr Abgeordnete des Deutschen<br />

<strong>Bundestag</strong>es, nicht nur jene, die im Petitionsausschuß<br />

ihren Sitz haben, mit den Eingaben der Bürgerinnen<br />

und Bürger befassen und sich verantwortlich<br />

wissen. Vielleicht wäre es sinnvoll, ein Arbeitssekretariat<br />

schon heute in Berlin einzurichten, um so<br />

unmittelbarer auf Petitionen der ostdeutschen Bürgerinnen<br />

und Bürger reagieren zu können und sie unverzüglich<br />

zu beraten.<br />

Jeder von Ihnen, der mit den Eingaben aus Ostdeutschland<br />

befaßt ist, wird mir bestätigen können,<br />

daß in diesen Petitionen zumeist dramatisch verschlechterte<br />

Lebenssituationen und Lebensperspektiven,<br />

häufig individuell nicht lösbare Notsituationen<br />

oder unhaltbare Rechtszustände geschildert werden.<br />

Häufig sind es Menschen, die sich erneut gedemütigt,<br />

deklassiert und unverstanden fühlen. Die Petitionen<br />

belegen an einer Vielzahl von Einzelfällen anschaulich<br />

die ungeheuren Lücken und Mängel des Einigungsvertrages.<br />

Die Berichte über Arbeitslosigkeit,<br />

Lehrstellenmangel, niedrige Löhne und Gehälter,<br />

mangelhafte gesundheitliche Versorgung, den für<br />

viele, insbesondere Alte und Kranke, nicht zu verkraftenden<br />

Anstieg der Lebenshaltungskosten sowie Probleme<br />

bei der Privatisierung und Fragen des Eigentums<br />

zeigen, wie weit wir tatsächlich von einer sozialen<br />

Einheit in Deutschland entfernt sind.<br />

Angesichts der Zurückhaltung der Bundesregierung,<br />

die Probleme der in ihrer Lebenssituation oftmals<br />

tiefgreifend verunsicherten Bürgerinnen und<br />

Bürger wirklich zur Kenntnis zu nehmen, wäre es eigentlich<br />

angebracht, alle Petitionen aus den ostdeutschen<br />

Ländern mit dem hohen Votum, über das der<br />

Deutsche <strong>Bundestag</strong> verfügt, der Bundesregierung<br />

zur Berücksichtigung zu überweisen, weil Abhilfe<br />

notwendig erscheint.<br />

-<br />

Klar ist: Der Petitionsausschuß allein kann nicht die<br />

Wunden heilen, die die weitgehende Übertragung<br />

des bundesdeutschen Rechtssystems auf die ehemalige<br />

DDR in vielen Bereichen schlägt. Genau dort<br />

aber, wo schnelle, unbürokratische und unkonventionelle<br />

Hilfe gefragt wäre, stößt der Petitionsausschuß<br />

an eine weitere Grenze. Nach Recht und Gesetz<br />

kann in akuten Notlagen oftmals nicht geholfen werden.<br />

Die Rechtslage ist infolge der unreflektierten<br />

Übernahme des westdeutschen Rechtssystems auf<br />

ostdeutsche Verhältnisse nun einmal so. Aber darf das<br />

das letzte Wort des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es sein? Es<br />

ist doch eindeutig, daß es in diesen Fällen nicht mit<br />

einer Darstellung der Rechtslage oder der Vertröstung<br />

auf langwierige Gesetzesinitiativen der Fraktionen<br />

des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es getan ist.<br />

Ich möchte Sie deshalb, sehr geehrte Kolleginnen<br />

und Kollegen, darum bitten, mehr Mut zu unkonventionellen<br />

Entscheidungen im Einzelfall zu haben und<br />

häufiger auch dort zugunsten der Petenten zu entscheiden,<br />

wo das Anliegen mit der Rechtslage nicht in<br />

Übereinstimmung zu stehen scheint. Der gesunde<br />

Menschenverstand und Ihr Gerechtigkeitssinn sind<br />

oft eine bessere Richtschnur als gedrucktes Gesetzeswerk.<br />

(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der<br />

SPD)<br />

Gesetze kann man ändern. Wenn ein Gesetz absolut<br />

keine Ausnahme im Einzelfall zuläßt, müssen die Gesetze<br />

vom Deutschen <strong>Bundestag</strong> in Zukunft vermehrt<br />

mit Härtefallregelungen ausgestattet werden,<br />

(Beifall bei der SPD)<br />

die es dem Petitionsausschuß ermöglichen, angemessen<br />

zu reagieren.<br />

Zu erwägen ist im Sinne einer demokratischen, unmittelbaren<br />

Einmischung der Bürgerinnen und Bürger<br />

in ihre Angelegenheiten, für die wir in der friedlichen<br />

Revolution eingetreten sind, eine Stärkung der<br />

sogenannten Massenpetitionen. Ich habe viel Sympathie<br />

für den Vorschlag, daß Petitionen, die von mehr<br />

als hunderttausend Menschen unterstützt werden, im<br />

Plenum des Deutschen <strong>Bundestag</strong>es behandelt werden<br />

müssen und daß Vertreterinnen und Vertreter der<br />

Petitionsgemeinschaft vom Ausschuß angehört werden<br />

sollen. In diesem Sinne liegt dem Deutschen <strong>Bundestag</strong><br />

übrigens eine Petition zur Stärkung des Petitionsrechts<br />

vor, mit der wir uns im Ausschuß zu bef assen<br />

haben.<br />

Weiterhin möchte ich die Bundesregierung auffordern,<br />

die Petitionen, die ihr vom <strong>Bundestag</strong> zugeleitet<br />

werden, ernster als bisher zu nehmen. Dem Bericht<br />

des Petitionsausschusses entnehme ich, daß dies offenbar<br />

nicht selbstverständlich ist. Ich unterstütze<br />

nachdrücklich den Hinweis des Petitionsausschusses,<br />

daß die Bundesregierung politisch verpflichtet ist, alles<br />

ihr Mögliche zu tun, um den Ersuchen des <strong>Bundestag</strong>es<br />

gerecht zu werden.<br />

Zum Schluß möchte ich die Gelegenheit nutzen, um<br />

die Innenminister der Länder und den Herrn Bundesinnenminister<br />

nachdrücklich darum zu bitten, jene<br />

Bestimmung des Ausländergesetzes rückgängig zu<br />

machen, nach der es möglich ist, trotz laufender Petitionsverfahren<br />

die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber<br />

durchzuführen.<br />

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dag<br />

mar Enkelmann [PDS/Linke Liste])<br />

Ohne die Entscheidung eines Landesparlaments oder<br />

des <strong>Bundestag</strong>es abzuwarten, werden hier von der<br />

Exekutive Tatsachen geschaffen, die für die Betroffenen<br />

eine unmittelbare Härte oder einen unakzeptablen<br />

sozialen Abstieg bedeuten können. Ich sehe<br />

hierin eine Verletzung des Art. 17 des Grundgesetzes<br />

und eine Mißachtung der frei gewählten Abgeordneten<br />

durch die Exekutive, die wir nicht hinnehmen<br />

können.

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