33. Sitzung - Deutscher Bundestag
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2560 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Dr. Peter Glotz<br />
uns allen — ist weder die Schutz- noch die Vormacht<br />
Osteuropas oder Südosteuropas. Aber wir sind wohl<br />
ein Nachbar, der sich nicht einfach fein heraushalten<br />
kann. Aus dieser Geisteshaltung heraus definieren<br />
sich die beiden Anträge, die wir heute hier vorlegen.<br />
Meine erste Feststellung betrifft die Ankündigung<br />
der Republik Slowenien, Ende Juni aus dem jugoslawischen<br />
Staatsverband auszuscheiden und ihre Selbständigkeit<br />
zu erklären. Wir haben diese Entscheidung<br />
eines Nachbarvolks zur Kenntnis zu nehmen.<br />
Ich möchte dazu aber zwei Bemerkungen machen.<br />
Erstens. Wir müssen daran interessiert sein, daß alle<br />
nationalen Entscheidungen so getroffen werden, daß<br />
nicht noch mehr Leid, Elend und vor allem wirtschaftliche<br />
Not entstehen. Die ökonomischen Folgen nationaler<br />
Entscheidungen müssen berücksichtigt und in<br />
die Überlegungen einbezogen werden. Wenn wir raten<br />
können, dann raten wir, nicht einfach nationale<br />
Entscheidungen zu treffen, die über die ökonomischen<br />
Interessen der betroffenen Bevölkerung hinweggehen.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP)<br />
Zweitens. Wir fordern übereinstimmend alle Betroffenen<br />
auf, von Gewaltanwendung abzusehen. Wir fügen<br />
hinzu: Ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung<br />
jedes nationalen Emanzipationsprozesses ist für uns<br />
auch, ob die jeweiligen Mehrheits-Völker ihren jeweiligen<br />
Minderheiten Achtung und Respekt entgegenbringen<br />
oder ob sie das nicht tun. Das ist, wie gesagt,<br />
ein ganz wichtiges Kriterium. Wo in einem Zerfallsprozeß<br />
staatlicher Einheiten die Gelegenheit benutzt<br />
wird, Minderheiten zu drangsalieren und ihrer Rechte<br />
zu berauben, sind wir als <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> auf der<br />
Seite der Minderheit.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />
Liste)<br />
Zweifellos muß man die Verhältnisse in den einzelnen<br />
Republiken Jugoslawiens sehr deutlich voneinander<br />
unterscheiden. Slowenien ist die wirtschaftlich<br />
stärkste Republik Jugoslawiens. Der Anteil der Völkerschaften,<br />
die nicht zur slowenischen Titularnation<br />
gehören, beträgt nur 8 %. Das Verhältnis zu den Minderheiten<br />
ist dort befriedet, also erscheint ein Ausscheiden<br />
Sloweniens aus dem jugoslawischen Staatsverband<br />
vielen Beobachtern — es scheint ja kein<br />
Zweifel zu sein, daß das dem Wunsch der Mehrheit<br />
des slowenischen Volkes entspricht — als möglich, oft<br />
sogar als akzeptabel.<br />
Wir wissen allerdings: Jeder Schritt einer Republik<br />
hat Folgen für die anderen. Kroatien hat angekündigt,<br />
einen slowenischen Schritt rasch folgen zu wollen.<br />
Heute hört man von einer ähnlichen Ankündigung<br />
aus Mazedonien. Bei Kroatien ist die Gefahr groß, daß<br />
dies rasch zu militanten Auseinandersetzungen zwischen<br />
der kroatischen Mehrheit und der serbischen<br />
Minderheit führt. Sollten sich die beiden Republiken<br />
Slowenien und Kroatien aus dem Staatsverband lösen,<br />
muß man davon ausgehen, daß viele der Völkerschaften<br />
im Süden nicht allein mit dem stärksten Volk,<br />
den Serben, in einem Staatsverband bleiben wollen<br />
und daß dies eine Fülle von Konsequenzen, nämlich<br />
eine Zerteilung des jugoslawischen Staates, zur Folge<br />
hat.<br />
Ich wiederhole ein letztes Mal: Die Deutschen werden<br />
sich nicht zum Vormund der jugoslawischen Völker<br />
aufwerfen. Aber zu folgenden Feststellungen<br />
glauben wir uns schon berechtigt: Auch wenn es langfristig<br />
ohne weiteres denkbar ist, liebe Kolleginnen<br />
und Kollegen, daß die einzelnen Völker Jugoslawiens<br />
in einem Europa der Regionen in Selbständigkeit leben<br />
und einem solchen Europa der Regionen angehören,<br />
müssen wir im gegenwärtigen Zeitpunkt doch für<br />
einen jugoslawischen Dialog eintreten.<br />
(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]:<br />
Sehr richtig!)<br />
Denn heute und in der unmittelbaren Zukunft steht<br />
eine Europäische Gemeinschaft, die den Zusammenhang<br />
des jugoslawischen Staatsverbands ersetzen<br />
könnte, nicht zur Verfügung. Wir setzen uns deshalb<br />
dafür ein, daß der Dialog in Jugoslawien fortgesetzt<br />
wird.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke<br />
Liste)<br />
Wir machen gleichzeitig darauf aufmerksam: Die<br />
Europäische Gemeinschaft ist kein Netz, in das man<br />
sich nach waghalsigen Übungen am nationalen Trapez<br />
einfach fallen lassen kann.<br />
(Heiterkeit bei der SPD der CDU/CSU und<br />
der FDP — Ulrich Irmer [FDP]: Sehr schön<br />
gesagt!)<br />
Nach der Süderweiterung im Prozeß der Assoziierung<br />
Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns ist<br />
diese Gemeinschaft bei aller Prosperität erheblich belastet.<br />
Die Europäische Gemeinschaft ist nicht der<br />
Große Bruder, der zur Lösung der Probleme zur Verfügung<br />
steht, die aus nationalen Auseinandersetzungen<br />
in Osteuropa oder Südosteuropa entstehen.<br />
Meine zweite Bemerkung richtet sich auf die Lage<br />
in Kosovo -Metochia. Ich denke, dort liegt der gefährlichste,<br />
wenn auch nicht der einzige gefährliche Konfliktherd<br />
dieser Region.<br />
Nachdem eine Delegation des Auswärtigen Ausschusses<br />
unter Ihrer Leitung, Herr Kollege Stercken,<br />
Gespräche mit allen Gruppen im Kosovo geführt hat,<br />
sagen wir klar: Die Dispensierung der verfassungsmäßigen<br />
Institutionen im Kosovo durch die serbische<br />
Staatsmacht ist eine Entrechtung der Albaner im Kosovo.<br />
Eine Befriedung wird erst möglich sein, wenn<br />
diese Beraubung von Rechten wieder rückgängig gemacht<br />
wird.<br />
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der<br />
FDP)<br />
Uns ist bewußt, daß die albanische Mehrheit im<br />
Kosovo zwischen 1974 und 1990 gegenüber der serbischen<br />
Minderheit Fehler gemacht hat. Auch wollen<br />
wir zu dem staatsrechtlichen Konflikt, ob die Albaner<br />
eine Völkerschaft (narodnost) oder ein Volk (narod)<br />
sind, nicht Stellung nehmen.