33. Sitzung - Deutscher Bundestag
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2552 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> — 12. Wahlperiode — <strong>33.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Bonn, Mittwoch, den 19. Juni 1991<br />
Freimut Duve<br />
fachrolle des einzelnen nur sehr schwer abfinden. Gerade<br />
deshalb ist der individualrechtliche Ansatz im<br />
Kopenhagener Dokument so wichtig. Nur er deckt die<br />
vielfältigen Spannungen, denen der moderne Mensch<br />
ausgesetzt ist.<br />
Der polnische Autor Ryszard Kapuscinski hat — damit<br />
will ich schließen — diese merkwürdige Spannung<br />
der modernen Menschen zwischen der immer<br />
engeren Bindung an das je Eigene und dem Leben in<br />
der modernen Gesellschaft am Beispiel von Los Angeles<br />
mit dem Begriff der Collagen-Gesellschaft umschrieben:<br />
Es geht weder um die Einschmelzung aller<br />
in die Moderne unterschiedsloser Fernsehgesellschaften<br />
noch um die Rückkehr zu alten Zugehörigkeiten.<br />
Es geht um eine neue Vielfalt, auch im eigenen Leben.<br />
Meine Damen und Herren, ich sehe in der modernen<br />
Welt eigentlich nur drei Beispiele, wo das, was wir<br />
anstreben, bisher für das ganze Volk einigermaßen<br />
gelungen ist. Das ist die amerikanische Gesellschaft<br />
mit all den Fragezeichen, die wir insoweit immer stellen<br />
müssen, das ist — nur für die jüdischen Bürger —<br />
die israelische, wo sich Menschen aus ganz unterschiedlichen<br />
Kulturen unter dem Dach einer Religion<br />
zusammenfinden, und das ist die Schweizer Gesellschaft.<br />
In allen anderen Gesellschaften haben wir sozusagen<br />
neue Typen von Problemen. Auch in allen<br />
westeuropäischen Gesellschaften haben wir alte Konflikte,<br />
wobei ich an Spanien, aber auch an Irland<br />
denke.<br />
Lassen Sie uns gemeinsam hoffen, daß auf dieser<br />
Konferenz neue Anregungen kommen und daß die<br />
KSZE bald auch zu institutionalisierten Instrumenten<br />
kommt, um auf diesem Wege mit uns gemeinsam weiterzuarbeiten.<br />
Danke schön.<br />
(Beifall bei der SPD, der FDP sowie bei Abge<br />
ordneten der CDU/CSU und der PDS/Linke<br />
Liste)<br />
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der<br />
Abgeordnete Ulrich Irmer das Wort.<br />
Ulrich Irmer (FDP): Frau Präsidentin! Meine verehrten<br />
Kollegen! Viele Probleme in der Geschichte und<br />
auch in der Gegenwart sind durch Nationalitätenkonflikte<br />
verursacht. Minderheiten gibt es fast überall,<br />
und innerhalb dieser Minderheiten gibt es wiederum<br />
Minderheiten, die anderswo Mehrheiten sind.<br />
Wenn wir etwa Jugoslawien betrachten, stellen wir<br />
fest: Dort sind die Albaner im Kosovo in -<br />
der Minderheit<br />
gegenüber den Serben. Aber innerhalb des Kosovo<br />
gibt es wiederum eine serbische Minderheit unter<br />
der Mehrheit von Albanern. Die Serben, die in<br />
Kroatien leben, sind dort eine Minderheit; aber in<br />
Jugoslawien sind sie in der Mehrheit.<br />
Wir haben Minderheiten in unserem eigenen Land:<br />
die Dänen in Schleswig-Holstein und die Sorben, die<br />
unserem Lande jetzt zugewachsen sind und die wir<br />
herzlich willkommen heißen. Ich finde es sehr schön,<br />
daß eine Sorbin bei der CDU/CSU Stellvertretende<br />
Fraktionsvorsitzende ist. Ich glaube, daß das Problem<br />
der nationalen Minderheiten bei uns kein Problem<br />
mehr ist, weil wir Regeln gefunden haben, wie wir<br />
miteinander umgehen.<br />
In anderen Ländern gibt es riesige Probleme. Es gibt<br />
nicht nur das Problem der nationalen Minderheiten,<br />
sondern auch der Nationalstaaten, die aus unterschiedlichen<br />
Völkern bestehen. Ich denke an die<br />
Tschechoslowakei, wo zwei Völker leben: Tschechen<br />
und Slowaken. Sie müssen miteinander leben, sie<br />
müssen miteinander auskommen.<br />
(Dr. Peter Glotz [SPD]: Das ist ein Nationali<br />
tätenkonflikt!)<br />
Wenige Kilometer von hier entfernt, in Belgien, leben<br />
Wallonen, Flamen und eine deutsche Minderheit, die<br />
dort Rechte genießt, zusammen. Deutsch ist in Belgien<br />
dritte Amtssprache. Wir haben Vielvölkerstaaten wie<br />
etwa die Schweiz und Jugoslawien.<br />
Wir müssen uns eigentlich eines klarmachen: Im<br />
Lichte des europäischen Zusammenschlusses, im<br />
Lichte dessen, was wir als Europäische Union anstreben,<br />
ist jeder von uns Minderheit. In Europa sind auch<br />
die Deutschen eine Minderheit, obwohl sie an Zahlen<br />
die meisten sind. Auch in der EG sind wir eine Minderheit.<br />
Ich sollte mir immer klarmachen, daß ich<br />
überall auf der Welt, außer in meinem eigenen Lande,<br />
Ausländer bin.<br />
(Beifall bei der FDP und der SPD)<br />
Das Wort „Ausländer" ist ein ganz eigenartiger Begriff.<br />
Ich brauche nur über die Grenze zu gehen, und<br />
ich bin Ausländer. Ich bin eine Minderheit auf der<br />
ganzen Welt, auch als <strong>Deutscher</strong>.<br />
Meine Damen und Herren, es gibt den Begriff der<br />
nationalen Minderheit. Wir haben ihn in unserem<br />
Entschließungsantrag nicht definiert. Die KSZE-Expertenkonfernz<br />
wird sich sicher Mühe geben, eine<br />
Definition zu finden. Aber es gibt über den traditionellen<br />
Begriff der nationalen Minderheit hinaus neue<br />
Formen von nationalen Minderheiten. Traditionell<br />
sagt man: Eine nationale Minderheit ist eine Gruppe,<br />
die die Staatsangehörigkeit des Landes hat, wo sie<br />
lebt. Aber betrachten wir einmal Wanderarbeitnehmer:<br />
Sind die Türken bei uns im Lande nicht auch eine<br />
nationale Minderheit, obwohl sie hierzulande keine<br />
Staatsangehörigkeit haben? Kann sich das nicht ändern?<br />
Wird nicht auch ein Türke der dritten Generation<br />
zur nationalen Minderheit, wenn er ständig hier<br />
lebt?<br />
Vielleicht ist dieser Ansatz — Herr Duve, Sie haben<br />
die USA erwähnt — doch ganz hilfreich; denn die USA<br />
setzen sich nur aus Zuwanderern zusammen, aus<br />
Menschen, die dort heimisch geworden sind und sich<br />
heute alle als Amerikaner fühlen. Ich möchte ein wenig<br />
davor warnen, daß man die Definition der nationalen<br />
Minderheit an die Staatsangehörigkeit des Landes<br />
knüpft, in dem man lebt. Denn es wäre sonst zu<br />
leicht, daß die Mehrheit sagen würde: Dadurch, daß<br />
wir die Staatsangehörigkeit aberkennen oder nicht<br />
zuerkennen, sprechen wir dieser Gruppe die Rechte<br />
der nationalen Minderheit ab.<br />
Wir sollten, meine Damen und Herren, einige<br />
Grundregeln als selbstverständlich akzeptieren. Nationale<br />
Minderheiten sollten loyale Bürger des Landes<br />
sein, in dem sie leben. Das ist eine Grundvorausset-