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Autor: Tilmann P - Landesmedienzentrum Baden-Württemberg

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nicht mehr Gruppenwesen sind, die sich auseinandersetzen. Es scheint, als ob der<br />

Mensch im Hörspiel nicht mehr als zoon politikon, sondern nur noch als homo religiosus<br />

ernst genommen wird.<br />

Genau das ist mit der »Abstrahierung zum Individuellen hin« gemeint: ich möchte an der<br />

Behauptung festhalten, daß hier eine Abstrahierung – eine umgekehrte wie bei der<br />

klassischen Tragödie – vorliegt. Der Mensch wird reduziert auf die, freilich erweiterte,<br />

Skala der Empfindungen, auf die, freilich verfeinerten, inneren Tastorgane, auf ein fast<br />

»übersinnlich« registrierendes und reagierendes passives Weltverhältnis. Dies alles ergibt<br />

so differenzierte Farben, daß der Schauspieler auf der Bühne, der alles Leiden immer in<br />

Handeln umsetzt, nur sehr selten eine davon wird brauchen können, sie sind nicht<br />

leuchtend und kontrastreich genug, um »über die Rampe zu gehen«. Dennoch würde man<br />

der darstellerischen Technik, von der hier die Rede ist, auch nicht gerecht, wollte man ihr<br />

einfach den Terminus »lyrisch« aufprägen und sich damit zufrieden geben. Es fehlen ihr<br />

ja unter anderm alle naturlyrischen Empfindungen, und es fehlt ihr jede Möglichkeit zu<br />

einer Art lyrischer Objektivität. Sie hat vielmehr mit dem Dramatischen immer etwas<br />

Charakteristisches gemeinsam: nämlich jene ungebrochene, leidenschaftliche<br />

Ichbeziehung. So ist diese Haltung also vielleicht – um wiederum mit einem Paradox<br />

aufzuwarten – »leidend-dramatisch« zu nennen.<br />

Hans Paeschke hat in einem Referat im Dritten Programm des »Norddeutschen<br />

Rundfunks« ∗ wegen der Passivität, die sich darin ausdrückt, Bedenken gegen die<br />

Gesundheit der literarischen Form Hörspiel überhaupt geäußert. Hier vorerst nur soviel<br />

darüber: daß sein Wort vom »leidenden Weltverhältnis« der Gattung nur dann akzeptiert<br />

werden kann, wenn er einräumt, daß es auch innerhalb der leidenden Verhaltungsweise<br />

stark aktive und passive Reaktionen gibt, so daß das Hörspiel, z. B. bei Eich und bei<br />

vielen andern – aber man darf das wohl vom Hörspiel insgesamt sagen – ohne den<br />

leidenschaftlichen Glauben an die Möglichkeit zur Aktivität, zur sittlichen Entscheidung,<br />

niemals diese aggressive Form geworden wäre, die es heute ist. Seine großen<br />

Durchbrüche – mit Borchert und mit Eichs Träumen – trugen alle Kennzeichen großer<br />

sittlicher Durchbrüche, wie sie mit Literatur und in der Literatur nur äußerst selten<br />

geschehen.<br />

∗ Später abgedruckt im Merkur, Dezember 1961<br />

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