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Autor: Tilmann P - Landesmedienzentrum Baden-Württemberg

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verstehen kann. Bei Eich – wenn eine solche Analogie zwischen Poesie und Musik<br />

erlaubt ist – scheint es eine Verwandtschaft zwischen Variations- und Reihenform zu<br />

geben. Es geht um Wege, um Abläufe in der Zeit, um die vertauschbare Reihenfolge der<br />

Erfahrungen: vertauschbar so lange, bis der Punkt »fertig« erreicht ist. Ihn zu finden ist<br />

die Aufgabe.<br />

Der <strong>Autor</strong> hat die Linie, die hier skizziert wird, seit der Anderen und ich konsequent<br />

verfolgt – abgesehen vielleicht von einer etwas ungenaueren Zwischenperiode um 1955,<br />

in der drei Stücke entstanden, die, obwohl stiltypisch Eich, in der Kontur unklarer sind. Ich<br />

meine Zinngeschrei, diese böse Krypto-Komödie, die allen Vorstellungen von einer<br />

klassenmäßigen Fixiertheit des Menschen Hohn spricht: auf dem sozialen Spielfeld<br />

lassen sich spontan alle beliebigen Rösselsprünge machen, jeder ist jederzeit mit jedem<br />

andern vertauschbar. Dann das vielfigurige Panorama Der letzte Tag von Lissabon, in<br />

dem nicht der Untergang selbst, sondern der beklemmend stille Tag zuvor gezeigt wird:<br />

die Flöten der Blumenverkäufer und das Quietschen des Gartentors werden wie<br />

Angstschreie vernehmbar. Und schließlich Die Stunde des Huflattichs mit der dichterisch<br />

kaum zu bewältigenden (und darum wohl auch nicht ganz geglückten) Vision einer<br />

allerletzten Endphase, in der Menschensprache ohnmächtig wird und versiegt, aber der<br />

baumhohe, himmelverdunkelnde Huflattich und die Feuer auswerfenden Berge zu reden<br />

beginnen. Auch dies sind keine wohligen Träume, gemäß dem Eich-Vers: »Mach die<br />

Augen zu, was du dann siehst, gehört dir.« Auch hier wird drei rätselhaften Wirklichkeiten<br />

ins Medusengesicht geblickt: der Deformation des Menschen, der Deformation der<br />

Geschichte und der Deformation der Natur.<br />

Dennoch, das Nihil, die Beschwörung des Negativen, demgegenüber der Mensch zur<br />

Passivität verurteilt sein soll, ist mit Ausnahme dieser drei Stücke, in denen nach der<br />

Träume-Periode noch einmal etwas davon geistert, Eichs Metier nicht mehr, war es, wenn<br />

man es genau nimmt, nie ganz. Darin ist Eich erfreulich »unmodern«, darin macht er es<br />

sich schwer, darin liegt seine Zukunftsbedeutung. Die bisher wichtigsten Stücke seiner<br />

Reifezeit bilden die genaue Fortsetzung der inneren Erfahrung, die nach der Anderen und<br />

ich – in den Mädchen aus Viterbo Ausdruck gefunden hat. Es handelt sich um Das Jahr<br />

Lazertis, um Die Brandung vor Setúbal und um Festianus Märtyrer: alle drei Variationen<br />

des Lebens von Menschen, die plötzlich aus einem Zustand der Gelassenheit in einen<br />

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