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Autor: Tilmann P - Landesmedienzentrum Baden-Württemberg

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reifen Fleisches der dunkelroten Kirschen, ist am Ende eines solchen Stückes jedes<br />

Grundsatzurteil, gerade auch das strengste, bloß noch Buchstabe. Er tötet nicht nur den<br />

Verurteilten, sondern auch den Urteiler.<br />

Aller Dialektik und Schulmeisterei zum Trotz ist darum das Bild des blühenden Baums als<br />

Gegenbild zum mörderischen Feldherrn der großartigere Stückschluß. Der Dichter Brecht<br />

läßt es in uns, seinen Zuhörern, urteilslos stehen auf die Gefahr hin, daß das Lebendige<br />

stärker wirkt als das Moralische. In den Abgrund von Freiheit und Humor, der sich mit<br />

dieser Gegenüberstellung auftut, ist allerdings linientreuen Moralisten und Staatspolizisten<br />

nicht hineinzuschauen erlaubt. ∗<br />

Auch sonst ist von der Doktrin des Klassenkampfes und von andern Gesellschaftslehren<br />

in der Brechtschen Unterwelt und im ursprünglichen Text nicht die Rede. Hätte das<br />

Gericht nicht den blutbefleckten Feldherrn eine Sekunde zu früh aus dem Wartezimmer<br />

abgerufen, dann säße er gleich zu Anfang, durch »die Last seiner Ehrenzeichen, sein<br />

eigenes Gebrüll und die freundlichen Worte der Alten... geändert«, mitten unter den armen<br />

Sündern auf der Wartebank, auf die er gehört. Die Solidarität angesichts der Ewigkeit<br />

zwischen allem, was Menschenantlitz trägt, sogar zwischen Mördern und Opfern, wäre<br />

freilich auch nur ein Gemeinplatz, wenn sie total ausbräche und mit Worten<br />

ausgesprochen würde. Darum läßt sie Brecht immer nur in den größten Augenblicken des<br />

poetischen Ablaufs aufblitzen. Doch geht es ganz eindeutig um diese Solidarität. Es ist die<br />

Solidarität der »Schwächen«, die die Menschen haben, nicht eine Solidarität der<br />

Rechtfertigung und der Selbstgerechtigkeit. Darüber könnte sich, so seltsam es klingen<br />

mag, der Dichter der ersten Lukullus-Fassung mit Augustinus oder Luther durchaus<br />

einigen. Nur freilich in einem terroristischen Machtstaat kann da nicht zugestimmt werden.<br />

Ein ganzes dutzendmal wird schließlich von allen Gerichtsfunktionären der Unterwelt in<br />

der Zweitfassung eifrig beteuert: »Ins Nichts mit ihm! Ins Nichts mit ihm!« In das Geschrei<br />

am Ende der letzten, neu hinzugekommenen Szene stimmt jeder der Schöffen so<br />

beflissen ein, daß man kaum zweifelt: die Schreier wollen nur ihre eigenen Gewissen, ihre<br />

Angst vor der »unfehlbaren« Strenge ihrer Machthaber niederbrüllen. Die falsche<br />

Leidenschaft, der übermäßige Fanatismus verrät sie, verrät allerdings auch ihren Dichter.<br />

∗ Wilhelm Lehmann sagt in einem Interview über Brecht, daß seine »geforderte Welt der wirklichen<br />

widerspricht«. Hier, wie in vielen seiner späteren Dichtungen, läßt Brecht immer wieder Wirklichkeit durch<br />

die »geforderte Welt« hindurchbrechen.<br />

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