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Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

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8 Georg Fülberth<br />

wegtäuschen, daß es <strong>der</strong> Propaganda <strong>der</strong> Gegenseite gelungen war,<br />

viele potentielle SPD-Wähler wie<strong>der</strong> abzuwerben. Die sozialdemokratische<br />

Partei zog aus dieser Katastrophe nicht die Konsequenz, sich in<br />

Zukunft nicht nur — wie bisher — Um die Stimmen labiler Wählerschichten<br />

zu bemühen, son<strong>der</strong>n vor allem mit gezielterer Argumentation<br />

auf eine politische Qualifizierung ihrer Wähler <strong>und</strong> damit auf eine<br />

Stabilisierung ihres Anhangs hinzuwirken — sie versuchte umgekehrt<br />

das verlorene Terrain dadurch wie<strong>der</strong>zugewinnen, daß sie <strong>der</strong> massenwirksamen<br />

chauvinistischen Propaganda des <strong>deutschen</strong> Imperialismus<br />

Zugeständnisse machte <strong>und</strong> eine Korrektur ihrer Haltung zur Kolonialfrage<br />

vorbereitete 20 . Die Rücksicht auf schwankende Wählerstimmungen<br />

bestimmte auch ihr Verhalten in <strong>der</strong> Marokkokrise 1911:<br />

um nicht potentielle Wähler zu verschrecken, verzichtete sie auf wirkungsvolle<br />

Protestmaßnahmen gegen das imperialistische Kanonenboot"<br />

Abenteuer von Agadir 21 . Statt Wahlkampf <strong>und</strong> Parlamentstribüne<br />

als Instrumente politischer Massenerziehung einzusetzen —<br />

wie dies die Konzeption Friedrich Engels' vorgesehen hatte —, hatte<br />

sich die SPD zum Gefangenen ihrer eigenen parlamentarischen Taktik<br />

gemacht, indem sie ihr Verhalten von Massenmentalitäten abhängig<br />

machte, die nach wie vor nicht von ihrer Propaganda, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong><br />

Manipulation des politischen Gegners geprägt waren. Der 4. August<br />

1914 zeigte das Ergebnis dieser Entwicklung: Es muß angenommen<br />

werden, daß zu Beginn des 1. Weltkrieges die Führung <strong>der</strong> SPD nicht<br />

schneller ihre politische Position wechselte <strong>und</strong> ins Lager <strong>der</strong> imperialistischen<br />

Politik überging als <strong>der</strong> Großteil ihrer Anhänger <strong>und</strong><br />

potentiellen Wähler.<br />

3. Die juristische Bedrohung <strong>der</strong> Partei<br />

Neben <strong>der</strong> Parlamentarisierung kann ein zweiter dauern<strong>der</strong> Einfluß<br />

auf die Politik <strong>der</strong> SPD teilweise aus den Erfahrungen <strong>der</strong> Zeit<br />

des Sozialistengesetzes hergeleitet werden: die Furcht vor neuer<br />

Iliegalisierung. Die Partei hatte unter dem Ausnahmegesetz zwar<br />

ihre Stimmenzahl mehr als verdreifachen können, doch mußten ihre<br />

Funktionäre zugleich schwere persönliche Opfer in Kauf nehmen:<br />

neben Haftstrafen vor allem Ausweisungen infolge <strong>der</strong> Verhängung<br />

des Kleinen Belagerungszustandes über die wichtigsten Zentren <strong>der</strong><br />

sozialdemokratischen Agitation. Viele aktive Mitglie<strong>der</strong> entzogen<br />

sich den Verfolgungen durch die Auswan<strong>der</strong>ung nach Amerika.<br />

Die Politik des Parteivorstandes <strong>und</strong> <strong>der</strong> Reichstagsfraktion war<br />

daher unmittelbar nach dem Fall des Sozialistengesetzes darauf gerichtet,<br />

alles zu vermeiden, was zu einer neuen Iliegalisierung führen<br />

konnte. So riet die Fraktion 1890 davon ab, den 1. Mai durch eine<br />

20 Hans-Christoph Schrö<strong>der</strong>, Sozialismus <strong>und</strong> Imperialismus, Die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

<strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Sozialdemokratie mit dem Imperialismusproblem<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> „Weltpolitik" vor 1914, Teil I, Hannover 1968, S. 188.<br />

21 Peter Nettl, Rosa Luxemburg, 2. Aufl., Köln <strong>und</strong> Berlin 1968, S. 425;<br />

Schorske, a.a.O., S. 198—205.

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