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Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

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Privatmann <strong>und</strong>. Ursprungsmythos 103<br />

das Interpretationsverhältnis um. „Von <strong>der</strong> Absicht, das Anstößige <strong>der</strong><br />

Familienkomplexe zu beseitigen, um dies Anstößige nicht in Religion <strong>und</strong><br />

Ethik wie<strong>der</strong>zufinden, strahlen", wie Freud schon 1913 bemerkte, „alle die<br />

Abän<strong>der</strong>ungen aus, welche Jung an <strong>der</strong> Psychoanalyse vorgenommen<br />

hat*." Jung rechnete 1934, nachdem er inzwischen Hofpsychologe des NS<br />

geworden war, mit Freud in einer Weise ab, in <strong>der</strong> die Abrechnung Künzlis<br />

mit Marx präfiguriert ist. Freuds „schwerer Fehler" war es, daß er<br />

„jüdische Kategorien unbesehen auf den christlichen Germanen anwandte"<br />

<strong>und</strong> diesen damit <strong>der</strong> „Verdächtigung" aussetzte, in seinem „Seelengr<strong>und</strong>"<br />

liege <strong>der</strong>selbe sexuelle „Kehricht unerfüllbarer Kin<strong>der</strong>wünsche" wie in <strong>der</strong><br />

jüdischen Seele, aus <strong>der</strong> Freud diesen Kehricht auf die germanische projizierte.<br />

„Er kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine<br />

Nachfolger sie kannten. Hat sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus,<br />

auf die die ganze Welt mit Erstaunen blickt, eines Besseren<br />

belehrt? Wo lag die unerhörte Spannung <strong>und</strong> Wucht, als es noch keinen<br />

Nationalsozialismus gab? Sie lag verborgen in <strong>der</strong> germanischen<br />

Seele..." **. Derselbe Jung, <strong>der</strong> den <strong>deutschen</strong> Faschismus zunächst feierte<br />

als Auferstehung des Archetyps des Wotan aus den Tiefen <strong>der</strong> germanischen<br />

Seele, wandelte sich, als die Nie<strong>der</strong>lage des NS sich abzeichnete,<br />

zum enragiertesten Vertreter einer nicht weniger irrationalen Kollektivschuldthese,<br />

wofür er ja nur die Vorzeichen seiner Theorie zu än<strong>der</strong>n<br />

hatte. Kurz: diese Schule ist auch <strong>und</strong> gerade, wo sie über <strong>und</strong> gegen den<br />

Faschismus sich äußert, eng mit dem Faschismus verhaftet. — Künzlis<br />

Umgang mit <strong>der</strong> psychoanalytischen Terminologie ist dadurch charakterisiert,<br />

daß er im Gefolge C. G. Jungs ihre triebanalytische, sexuelle Bezogenheit<br />

ersetzt durch die Beziehung auf religiöse <strong>und</strong> rassische Urwesenheiten.<br />

Der begriffliche Zusammenhang <strong>der</strong> Triebverdrängung mit Wie<strong>der</strong>kehr<br />

des Verdrängten, Regression <strong>und</strong> Projektion, wird vom Sexualtrieb<br />

abgelöst <strong>und</strong> auf Urwesenheiten wie Gott, das Ewige o<strong>der</strong> das Judentum<br />

bezogen. Nun kann mit dem Schein psychoanalytischer Legitimität<br />

* Sigm<strong>und</strong> Freud: Zur <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> psychoanalytischen Bewegung,<br />

Bd. X <strong>der</strong> Gesammelten Werke, London 1946, S. 108. Weiter heißt es dort<br />

schon über Jungs Theorien von 1912: „Ein neues religiös-ethisches System<br />

wurde so geschaffen, welches ganz wie das Adlersche die tatsächlichen<br />

Ergebnisse <strong>der</strong> Analyse umdeuten, verzerren o<strong>der</strong> beseitigen mußte." Als<br />

Epigone dieses Systems wird Künzli auftreten, <strong>der</strong> aber, wogegen sich<br />

Freud bereits in <strong>der</strong> zitierten Stellungnahme wandte, so tut, als handle es<br />

sich bei seiner „Psychographie" um Anwendung von Ergebnissen <strong>der</strong><br />

Psychoanalyse. — Freud bezeichnet genau die gegenaufklärerisch motivierte<br />

Umdeutung <strong>der</strong> Psychoanalyse. Die Stelle sei zitiert, weil sie verschärft<br />

auf Künzlis Methode zutrifft: „Wenn Ethik <strong>und</strong> Religion nicht<br />

sexualisiert werden durften, son<strong>der</strong>n von Anfang an etwas ,Höheres'<br />

waren" — wie ja auch gegenüber ihrer historisch-materialistischen Herleitung<br />

—, „die Herleitung ihrer Vorstellungen aus dem Familien- <strong>und</strong><br />

Ödipuskomplex aber unabweisbar erschien, so ergab sich nur eine Auskunft:<br />

diese Komplexe durften von Anfang an nicht bedeuten, was sie<br />

auszusagen schienen, son<strong>der</strong>n jenen höheren, ,anagogischen' Sinn (nach<br />

Silberers Namensgebung) haben, mit dem sie sich in ihre Verwendung in<br />

den abstrakten Gedankengängen <strong>der</strong> Ethik <strong>und</strong> <strong>der</strong> religiösen Mystik einfügten"<br />

(ebd., S. 107).<br />

** Zentralblatt für Psychotherapie, Bd. 7, 1934; zit. n. Ludwig Marcuse:<br />

Sigm<strong>und</strong> Freud, Sein Bild vom Menschen. Rowohlts deutsche Enzyklopädie,<br />

Nr. 14 Hamburg 1956, S. 132.

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