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Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

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88 Wolfgang Fritz Haug<br />

Würdigung an, „vollbrachte er eine historische Tat: Er machte die<br />

Zeit aufmerksam auf die bis dahin allzu gern übersehene o<strong>der</strong> zumindest<br />

nicht genügend gewürdigte Tatsache, daß das Leben <strong>und</strong> die<br />

<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> Menschen nicht allein durch Geist, son<strong>der</strong>n auch durch<br />

die sozio-ökonomischen Verhältnisse bestimmt werden" (672). Marx<br />

hat diese noch im neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>ert nicht genügend gewürdigte<br />

Tatsache — wie so an<strong>der</strong>e mehr — lei<strong>der</strong> allerdings extrem einseitig<br />

dargestellt. Sein psychisches Schicksal <strong>und</strong> eine „numinose<br />

Potenz" haben ihn „befähigt, wie kein Zweiter die Welt seiner Zeit (!)<br />

auf die ihren (!) Produktionsverhältnissen immanente Bosheit hinzuweisen<br />

... Vielleicht ist es nur Werken dämonischer Unreife möglich,<br />

eine unreife Welt so gewaltig zu verän<strong>der</strong>n. (...) Allzu oft kam <strong>der</strong><br />

Fortschritt bisher im Gefolge kollektivhysterischer Konvulsionen<br />

<strong>der</strong> Menschheit, sofern" — schwächt Künzli freilich sogleich ab —<br />

„sofern man überhaupt annehmen will, die Menschheit habe sich bisher<br />

fortschrittlich entwickelt" (816). Alle entscheidenden Theorien<br />

von Marx sind zwar entwe<strong>der</strong> historisch überholt o<strong>der</strong> einfach falsch<br />

o<strong>der</strong>, wie z. B. die Marxsche Vorstellung von <strong>der</strong> historischen Rolle<br />

des Proletariats, „heute als ein Mythos erwiesen" (817). „Damit ist aber<br />

diesem Werk keineswegs die historische Bedeutung abgesprochen"<br />

(816). Künzli geht sogar noch weiter: „Man mag annehmen, Marx sei<br />

eine historische Notwendigkeit gewesen" (816). Der Akzent liegt hierbei<br />

ganz auf historisch <strong>und</strong> das heißt: vergangen.<br />

Nach vollzogener Rückführung des Marxismus ins neunzehnte<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, nach seiner Historisierung, wird er aus dem Museum<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit in die Urne des Privatmannes abgefüllt <strong>und</strong> sukzessive<br />

an immer ursprünglichere Heimatorte überführt. Der Marxismus,<br />

als Erscheinung des neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>erts, wird auf<br />

die Person Marx reduziert, <strong>und</strong> diese Person wird hermetisch von <strong>der</strong><br />

gesellschaftlichen Wirklichkeit abgeriegelt. Die erste Hauptkategorie<br />

dieses Vorgangs ist die <strong>der</strong> Psyche. Die Reprivatisierung des Marxismus<br />

vollzieht sich als Psychisierung des Werkes. Philologisch entspricht<br />

dieser Methode des Zurück die Reduktion von Marx auf den<br />

jungen Marx, — Gr<strong>und</strong>lage <strong>der</strong> Textinterpretationen wird durchgängig<br />

<strong>der</strong> ausgiebigst zitierte, um nicht zu sagen: ausgeweidete<br />

„junge Marx" <strong>der</strong> unveröffentlichten Manuskripte sein. — Wer aber<br />

nun etwa erwartet hätte, die „psychologische", gar „tiefenpsychologische"<br />

Interpretation des Marxschen Werkes würde diesem neue<br />

Aspekte abgewinnen o<strong>der</strong> gar neue Zugänge zu seinem Verständnis<br />

erschließen, <strong>der</strong> wird vollständig enttäuscht. Künzli erbringt den<br />

Beweis, wie man auf mehr als 800 Seiten psychologisieren kann, ohne<br />

auch nur ein Atom <strong>der</strong> historischen Leistung von Marx auf diese<br />

Weise zu erkennen. Psychologische Betrachtung ist für Künzli <strong>der</strong><br />

Titel einer hermeneutischen Strategie, Marx ins Ghetto seiner Psyche<br />

einzusperren 3 <strong>und</strong> von <strong>der</strong> Welt zu isolieren. Immer wenn Marx die<br />

3 Die Metapher wird von Künzli gebracht; offensichtlich soll die Rede<br />

von <strong>der</strong> „Gettomauer seines Intellektualismus <strong>und</strong> seiner Verdrängungen"<br />

(527) unterschwellig den „jüdischen Intellekt" bedeuten.

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