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Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

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Soziologie 129<br />

die erst während <strong>der</strong> Kriegsjahre entstandene türkische Handelsbourgeoisie,<br />

die „Neureichen", stellte „nur eine Ergänzung <strong>und</strong> einen<br />

Ersatz <strong>der</strong> nichttürkischen Kompradorenbourgeoisie dar" (68); sie<br />

konnte „sich durchaus im Rahmen halbkolonialer Herrschaftsverhältnisse<br />

reproduzieren" (ibid.). Einzig die kleinbürgerlichen okzidentalisierten<br />

Kräfte, insbeson<strong>der</strong>e die technisch geschulten, nationalistisch<br />

orientierten Offiziere behaupteten sich angesichts dieses „Klassenvakuums"<br />

als fähige Träger <strong>der</strong> kolonialrevolutionären Nationalbewegung<br />

(75, 77, 83) — eine in kolonialen <strong>und</strong> halbkolonialen Län<strong>der</strong>n<br />

bekannte Erscheinung.<br />

Die siegreiche nationale Bewegung löste 1924 das Sultanat-Kalifat<br />

auf, verwandelte sich in die republikanische Volkspartei CHP <strong>und</strong><br />

errichtete eine säkularistische Republik. Mit <strong>der</strong> Etablierung <strong>der</strong><br />

Herrschaft des türkischen nationalistischen Kleinbürgertums beginnt<br />

ein signifikanter Prozeß, in dem eine bürgerlich orientierte kleinbürgerliche<br />

Schicht einen bürgerlichen Staat aufbaute, <strong>der</strong> keineswegs<br />

<strong>der</strong> politisch-juristische Ausdruck bestehen<strong>der</strong> kapitalistischer<br />

Produktionsverhältnisse war, son<strong>der</strong>n ihre ideologische Antizipation.<br />

Die türkische Gesellschaft war immer noch vorbürgerlich, <strong>und</strong> erst<br />

die etatistischen Eingriffe des bürgerlichen kemalistischen Regimes<br />

konnten die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse forcieren. Die<br />

im Schöße des radikalen Etatismus entstandene Bourgeoisie, die in<br />

<strong>der</strong> Demokratischen Partei (DP) politisch organisiert war, vindizierte<br />

die politische Macht von den Kemalisten <strong>und</strong> konnte sie 1950 erringen.<br />

Bei diesem Bürgertum handelt es sich aber um eine Handelsbourgeoisie,<br />

die fast ausschließlich im Distributionssektor investierte<br />

<strong>und</strong> zum politischen Bündnispartner <strong>der</strong> Kräfte des Ancien Régime<br />

wurde. Die restaurative — antisäkularistische — Kulturpolitik <strong>der</strong><br />

DP, <strong>der</strong>en nicht mehr an einer Industrialisierung orientierte Wirtschaftspolitik<br />

<strong>und</strong> ihre proimperialistische Außenpolitik bedeuteten<br />

das Ende des Kemalismus. Die Voraussetzungen für dieses Ende<br />

waren in ihm selbst angelegt. Zwar stand das kemalistische Regime<br />

als ein bonapartistisches sowohl gegen die feudal-bürgerlichen<br />

Kräfte als auch gegen die sozialistischen <strong>und</strong> predigte beiden den<br />

Mythos <strong>der</strong> unitären Nation. Während aber die linken Kräfte physisch<br />

liquidiert wurden, wurde das feudal-bürgerliche Bündnislager<br />

nur unmittelbar politisch, nicht aber ökonomisch entmachtet. Die<br />

Bauern blieben weiterhin Objekte <strong>der</strong> Feudalherren (109). Die Kemalisten<br />

unternahmen, entsprechend ihrer ideologischen Orientierung,<br />

keinerlei Versuche, die Bauern aufzuklären, zu mobilisieren <strong>und</strong> an<br />

<strong>der</strong> Führung <strong>der</strong> Revolution zu beteiligen. Den Sieg <strong>der</strong> Revolution<br />

empfanden die Bauern als „Triumph des Islams über die Ungläubigen"<br />

(93), <strong>und</strong> <strong>der</strong> objektiv antikolonialistische türkische Nationalismus<br />

hatte bei den Bauern die Form <strong>der</strong> Xenophobie schlechthin angenommen<br />

(93).<br />

Steinhaus würdigt durchaus die Errungenschaften <strong>der</strong> Kemalisten<br />

während <strong>der</strong> 20er <strong>und</strong> 30er Jahre, zeigt aber zugleich, wie diese, bedingt<br />

durch die Struktur <strong>der</strong> kemalistischen Revolution <strong>und</strong> des von<br />

ihr errichteten Staates, sehr leicht rückgängig gemacht werden konn-

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