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Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

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82 Wolfgang Fritz Haug<br />

Als ein Hauptproblem bei <strong>der</strong> Einschätzung <strong>und</strong> Verwendung des<br />

Materials zu einer Biografie von Marx <strong>und</strong> Engels drängt sich die<br />

Frage auf nach dem Verhältnis von Briefwechsel <strong>und</strong> wissenschaftlich<br />

politischem, also für die Augen <strong>der</strong> Welt ausgearbeitetem Werk.<br />

Hirsch macht die für ihn selbstverständliche Gr<strong>und</strong>annahme, daß ein<br />

Text desto echter <strong>und</strong> wirklicher sei, für je weniger Augen er bestimmt<br />

ist. Folglich spielt Hirsch unter Zuhilfenahme so bewußtloser<br />

Kategorien wie „interessant" <strong>und</strong> „wertvoll" den Briefwechsel von<br />

Marx <strong>und</strong> Engels gegen ihr Werk aus. Dabei geht es nicht ohne<br />

sprachliche Komik ab. Der Briefwechsel sei nämlich „wahrscheinlich<br />

das Wertvollste <strong>und</strong> — von Spezialisten abgesehen — bestimmt das<br />

Interessanteste, das die Korrespondenten <strong>der</strong> Nachwelt hinterlassen"<br />

(35). Man könnte meinen, Hirsch rechne sich unter die Spezialisten,<br />

die Marx <strong>und</strong> Engels als Korrespondenten <strong>der</strong> Nachwelt hinterlassen<br />

haben <strong>und</strong> die sogar noch interessanter <strong>und</strong> wertvoller sind<br />

als <strong>der</strong> Briefwechsel. Hirsch will offenbar sagen, es sei z. B. das<br />

„Kapital" nur für Spezialisten interessant, <strong>der</strong> Briefwechsel hingegen<br />

für eine breite Leserschaft. Vor wenigen Jahren hätte diese<br />

Auffassung noch den Schein <strong>der</strong> Tatsachen für sich beanspruchen<br />

können, inzwischen ist sie wi<strong>der</strong>legt durch eine breite Rezeption <strong>der</strong><br />

Hauptwerke von Marx <strong>und</strong> Engels, darunter insbeson<strong>der</strong>e des „Kapital";<br />

dagegen blieb gerade die Rezeption des Briefwechsels auf Spezialisten<br />

beschränkt. Wenn Hirsch den Briefwechsel als das Interessantere<br />

gegen das Werk ausspielt, so verdient die Struktur seines<br />

Interesses Aufmerksamkeit. Warum erscheint ihm das Werk als das<br />

weniger Echte <strong>und</strong> weniger Interessante? Offenbar kann er es sich<br />

nicht an<strong>der</strong>s vorstellen, als daß die Anstrengung, die zwischen <strong>der</strong><br />

spontanen Intimität <strong>und</strong> dem ausgearbeiteten Werk steht, in etwa<br />

den Anstrengungen <strong>der</strong> Public-Relations-Abteilung einer Privatfirma<br />

entspricht: <strong>der</strong> Pflege des Image, d. h. <strong>der</strong> Herstellung eines<br />

Bildes allgemein menschlicher Verdienste, welches kaschieren soll,<br />

daß das Unternehmen einzig dem privaten Profitinteresse dient. Das<br />

Werk erscheint demnach einer solchen, kapitalistische Verhältnisse<br />

blind wi<strong>der</strong>spiegelnden Auffassung als das Unechte, mit Fassaden<br />

verkleidete, wenn nicht gar als die Fassade selbst. Die Anstrengung<br />

erscheint nicht als schöpferische Arbeit, son<strong>der</strong>n als Spiel — <strong>und</strong><br />

zwar im Sinne von Verstellung. Es wird nicht gezeigt, wie einer eine<br />

objektive, gesellschaftlich vorgegebene Aufgabe anpackt <strong>und</strong> an ihrer<br />

Lösung arbeitet, son<strong>der</strong>n ausgegangen wird von <strong>der</strong> Rolle, die einer<br />

spiele. Unausgesprochen steht hinter diesen Gr<strong>und</strong>annahmen von<br />

Hirsch ein Begriff von Wissenschaft, dem das Rohe, noch Unausgearbeitete<br />

alç das echte, weil ursprungsnahe Faktum gilt. Hirsch<br />

sieht wahrscheinlich nicht, daß ein solcher Begriff von Echtheit als<br />

Ursprungsnähe nur zu Fälschungen führen kann. Die ideologischen<br />

Effekte, die diese Sichtweise hervorzubringen vermag, nutzt er freilich<br />

ausgiebig. Die großen Neuerer Marx <strong>und</strong> Engels sind nicht so<br />

perfekt wie ihr Werk; zwischen ihnen <strong>und</strong> ihrem Werk steht, mit<br />

einem Wort von Günther An<strong>der</strong>s: ein prometheisches Gefälle. Hirsch<br />

versucht, wie viele an<strong>der</strong>e, die Menschen über dies Gefälle stolpern

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