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Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

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<strong>Geschichte</strong> 147<br />

zugestandene — empirische Lücke. Zu berücksichtigen wären Aussperrungen,<br />

Kurzarbeit <strong>und</strong> Rationalisierungsdruck, zu fragen wäre<br />

nach sozialen Differenzierungen („Arbeiteraristokratie") <strong>und</strong> regionalen<br />

Unterschieden. (Unzureichend auch: A. V. Desai, Real Wages in<br />

Germany, 1871—1913. Oxford 1968.)<br />

Entscheidend ist für Rosenberg, daß die gedämpfte Konjunktur<br />

einen tiefgreifenden sozialpsychischen „Klimaumschwung" (29) auslöste.<br />

Der Hinweis darauf, daß sich beson<strong>der</strong>s Bauern <strong>und</strong> Großagrarier,<br />

Kleingewerbe <strong>und</strong> mittlere Unternehmer getroffen sahen,<br />

läßt freilich zugleich die begrenzte Reichweite des Ansatzes erkennen.<br />

Denn die Flucht in wesentlich „vorfaschistische" Irrationalismen<br />

ist doch wohl vor allem eine Reaktion auf die Strukturkrise im Gefolge<br />

des raschen Übergangs zum Industriestaat gewesen; die Konjunkturkrise<br />

wirkte nur als Verstärker. Bündig umreißt Rosenberg<br />

die Formierung <strong>der</strong> exaltierten <strong>und</strong> deprimierten „marktabhängigen<br />

Produzenten" in straff organisierten Interessen- <strong>und</strong> Agitationsgruppen.<br />

Diesen „protektionistischen Kollektivismus" (79) deutet er<br />

als adäquaten Ausdruck eines „zu Wahnvorstellungen neigenden<br />

Zeitalters <strong>der</strong> Neurose" (56) — zwei Plakate, die angesichts <strong>der</strong> Vielfältigkeit<br />

<strong>der</strong> Kollektivismen nicht übermäßig viel hergeben. Fragwürdig<br />

ist auch <strong>der</strong> Akzent, <strong>der</strong> auf die „Diskreditierung des Liberalismus"<br />

(65) gelegt wird: sie erscheint als das gravierende Negativum<br />

<strong>der</strong> Epoche. Dabei werden Eigenständigkeit <strong>und</strong> Regenerationsfähigkeit<br />

des Liberalismus überschätzt, zumal mit <strong>der</strong> Transformation<br />

vom Frühkapitalismus zum organisierten Industriekapitalismus<br />

seine Basis schwand.<br />

Auf <strong>der</strong> „kollektivistischen" Linie lag nach Rosenberg auch die<br />

Schutzzoll- <strong>und</strong> Sozialpolitik. Dem Hinweis, daß die innenpolitisch<br />

motivierte Zollpolitik das außenpolitische Bündnissystem langfristig<br />

konterkariert habe, sollte in weiteren Forschungen nachgegangen<br />

werden. Die Problematik staatlicher Wirtschaftssteuerung in <strong>der</strong> hier<br />

behandelten Zeit haben erst neuerdings die Untersuchungen von<br />

Wehler weiter aufgehellt (Bismarck <strong>und</strong> <strong>der</strong> Imperialismus, Köln/<br />

Berlin 1969). Er kann u. a. nachweisen, daß wirkungsvollere <strong>und</strong> zugleich<br />

geräuschlosere Versuche einer antizyklischen Intervention mit<br />

<strong>der</strong> Außenhandels- <strong>und</strong> Kolonialpolitik gemacht wurden.<br />

Die Abschnitte über den Kollektivismus lassen vollends deutlich<br />

werden, daß die „langen Wechsellagen" nicht als methodisches Allheilmittel<br />

taugen. Die konjunkturelle Krise verschärfte weniger die Klassengegensätze<br />

als das Bewußtsein von ihnen. Die Bedingungen dieses<br />

Trends bleiben unaufgeklärt. Rosenbergs Verzicht, nach den sozioökonomischen<br />

Ursachen <strong>der</strong> Depression zu fragen, blockiert eine umfassende<br />

Analyse. Eine erklärende <strong>und</strong> zugleich kritische Theorie <strong>der</strong><br />

kapitalistischen Gesellschaftsformation ist abgeschnitten. Die Folgen<br />

werden beson<strong>der</strong>s offenk<strong>und</strong>ig bei <strong>der</strong> Beurteilung des bonapartistischen<br />

Stabilisierungsregimes Bismarcks: Die Argumentation verengt<br />

sich darauf, die Intransigenz des negativen Helden anzuklagen. In<br />

diesen Passagen (etwa 225) schlägt die kritische Intention in schlichtes<br />

Moralisieren um.<br />

Alf Lüdtke (Tübingen)

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