02.03.2014 Aufrufe

Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

100 Wolfgang Fritz Haug<br />

<strong>der</strong> Religion <strong>und</strong> dem Anspruch <strong>der</strong> bürgerlichen Vernunft. — Die restaurative<br />

Hermeneutik sucht das Woher nicht, um den Weg heraus<br />

<strong>und</strong> nach vorn zu zeigen, son<strong>der</strong>n um das Wohin schlecht zu machen.<br />

Sie besteht auf dem Woher im Wohin, damit es kein Wohin gebe.<br />

Marx besteht auf dem Wohin in <strong>der</strong> Herkunft. Er begriff die Religion<br />

als Seufzer <strong>der</strong> bedrängten Kreatur, als Gemüt einer herzlosen <strong>und</strong><br />

als Traum von einer befreiten <strong>und</strong> gerechten Welt, nicht, um es bei<br />

Seufzer, Trost <strong>und</strong> Traum zu belassen, son<strong>der</strong>n um den Anspruch in<br />

die Sprache <strong>der</strong> Realisierbarkeit zu übersetzen. Es ist in Religion <strong>und</strong><br />

Mythos, daß die Menschheit längst <strong>der</strong>. Traum einer Sache besitzt,<br />

von <strong>der</strong> sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu<br />

besitzen. — Bei dieser Übersetzung hakt die restaurative Hermeneutik<br />

mit dem Begriff <strong>der</strong> Säkularisierung ein. Dabei verfährt sie<br />

wi<strong>der</strong>sprüchlich. Zuerst erklärt sie das Neue für Verrat am Ursprung,<br />

seine illegitime Aneignung, <strong>und</strong> tritt so als Wahrerin des Ursprungs<br />

auf. Indem sie aber andrerseits das Neue als „Religionsersatz" etc.<br />

herabsetzt, soll es <strong>der</strong> Entmythologisierung anheimfallen. Damit aber<br />

verrät die restaurative Hermeneutik sich selbst <strong>und</strong> ihre geschäftig<br />

kultivierten Ursprünge. Denn das, worauf sie sich beruft, ist „ursprünglich"<br />

nicht prinzipiell an<strong>der</strong>er Natur als das, was sie mit dieserart<br />

Berufung bekämpft. Je<strong>der</strong> „Ursprung" ist seinem Wesen nach<br />

bereits ein Entsprungenes. Statt durch parallelisierende Identifikation<br />

mit Moses — wie Künzli es im Verein mit zahllosen Ideologen<br />

<strong>der</strong> spätbürgerlichen Gegenaufklärung tut — Marx zurückzunehmen,<br />

drängt es sich auf, „Moses" mit Marx nach vorn zu nehmen. — Wenn<br />

Künzli gar in <strong>der</strong> biblischen Topik, die sich durch Marxens Analysen<br />

zieht, in Hülle <strong>und</strong> Fülle Material <strong>und</strong> scheinbare Belege für die Anklage<br />

<strong>der</strong> ersatzreligiösen Illegitimität findet, so hat dies seinen guten<br />

Gr<strong>und</strong> in <strong>der</strong> historisch-materialistischen Auffassung des Religiösen.<br />

Marx bezieht sich auf die Gestalten <strong>der</strong> Religion in Kritik <strong>und</strong> Aufklärung<br />

ihrer irrationalen Form <strong>und</strong> in Anknüpfung an ihren rationalen<br />

Gehalt. Wenn Marx den Kommunismus als das aufgelöste<br />

Rätsel <strong>der</strong> bisherigen <strong>Geschichte</strong> bezeichnen kann, so deshalb, weil<br />

er ihn als die rationale, bewußte Organisation des in irrationaler <strong>und</strong><br />

bewußtloser Form eingeb<strong>und</strong>enen Gehalts <strong>der</strong> alten Gesellschaftsformationen<br />

konzipiert: als die rationale Regelung des Stoffwechsels<br />

<strong>der</strong> vergesellschafteten Menschen mit <strong>der</strong> Natur. Der Kommunismus<br />

ist deshalb so wenig bloße Säkularisierung <strong>der</strong> alten Bewußtlosigkeit,<br />

wie seine Ideologiekritik Säkularisierung <strong>der</strong> Ideologie ist.<br />

So hat Künzlis Anstrengung, den Marxismus zu ruinieren, nichts<br />

an<strong>der</strong>es ans Licht gebracht als den historischen Ruin des bürgerlichen<br />

Bewußtseins. Der gegenaufklärerische Eklektizismus seiner „Psychographie"<br />

macht sie aussagekräftig über den gegenwärtigen Stand<br />

des bürgerlichen Geschichtsdenkens. Die Abwehr des Sozialismus hat<br />

dieses Bewußtsein bis ins Mark verän<strong>der</strong>t. Sie führt zu einem bürgerlichen<br />

Haß gegen Aufklärung, die als „Totalitarismus <strong>der</strong> Vernunft"<br />

(544) diffamiert wird <strong>und</strong> die doch bürgerlich gewesen ist. Das spätbürgerliche<br />

Wesen aber ist nicht mehr, was bürgerlich gewesen ist.<br />

Im Zuge des Kampfes <strong>der</strong> Bourgeoisie um die Bewahrung ihrer Herr-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!