02.03.2014 Aufrufe

Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

Geschichte und Geschichtsschreibung der deutschen ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Geschichte</strong> 145<br />

des etwa abzeichnen. Gerade an <strong>der</strong> vorliegenden Thematik zeigt sich<br />

die Notwendigkeit einer innerdisziplinären „Vergangenheitsbewältigung"<br />

: Zwar nennt eine Bismarck-Bibliographie inzwischen mehr als<br />

sechstausend Titel, doch haben sozialhistorisch f<strong>und</strong>ierte Untersuchungen<br />

über die zweite Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bei uns immer<br />

noch Seltenheitswert. Der Umschwung des Forschungsinteresses<br />

manifestiert sich innerhalb dieses Auswahlbandes am Gegensatz<br />

zwischen <strong>der</strong> traditionellen, „rein biographischen, sublim-geisteswissenschaftlichen,<br />

exklusiv-diplomatischen <strong>Geschichtsschreibung</strong>"<br />

(Böhme, 12) <strong>und</strong> den soziologisch-ökonomisch orientierten Analysen<br />

vor allem jüngerer Historiker, die sich bei ihren Untersuchungen<br />

nicht scheuen, auch einmal Handelsstatistiken <strong>und</strong> Bankbilanzen mit<br />

in Betracht zu ziehen. Böhmes Auswahl dürfte nicht zuletzt unter<br />

diesem methodischen Gesichtspunkt getroffen worden sein. Daß er<br />

Arbeiten von DDR-Historikern mit berücksichtigt hat, erhöht den<br />

Wert des Bandes als eine methodologisch vergleichende Sammlung.<br />

Die zusammengetragenen Arbeiten belegen eindrucksvoll den<br />

unterschiedlichen Informationsgehalt sozialgeschichtlich ansetzen<strong>der</strong><br />

Analysen (Böhme, Rosenberg, Sauer, Weber, Winkler, Zorn, Zunkel)<br />

<strong>und</strong> jener sich im schlechten Sinne als „geisteswissenschaftlich" begreifenden<br />

Historiographie, die es im Effekt zu oft nicht mehr bringt<br />

als zur subtilen Neukombination ideologischer Versatzstücke. Richtet<br />

man den Blick auf die entscheidenden gesellschaftlichen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen, so reduziert sich das von einer nationalistisch<br />

eingefärbten <strong>Geschichtsschreibung</strong> zum historischen Angelpunkt<br />

hochstilisierte Datum von 1871 zur bloßen Etappe einer für<br />

Mitteleuropa allerdings entscheidenden Umbruchperiode, die etwa<br />

1847/48 einsetzt <strong>und</strong> die bis zu ihrem Ende 1879/80 für Deutschland<br />

den Übergang zum Hoch- <strong>und</strong> Spätkapitalismus bezeichnet. Solcherart<br />

in den realen gesellschaftlichen Bezugsrahmen zurückversetzt,<br />

verliert auch die Person des „Reichsgrün<strong>der</strong>s" Bismarck viel von<br />

ihrem generationenlang gepflegten Mythos. Sein Wirken qualifiziert<br />

ihn weniger als Weltbeweger denn als freilich genialen politischen<br />

Taktiker mit ausgezeichnetem Gespür für gesellschaftliche Machtverhältnisse<br />

(sehr schön dargestellt in <strong>der</strong> Arbeit von Pflanze über<br />

„das deutsche Gleichgewicht", S. 243 ff.).<br />

ökonomisch sind die drei Jahrzehnte <strong>der</strong> „Reichsgründungszeit"<br />

gekennzeichnet durch eine <strong>der</strong> „Revolution" von 1848 vorausgehende<br />

<strong>und</strong> diese mit verursachende Depression, den vehementen Wirtschaftsaufschwung<br />

<strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> jähre nach erfolgter ökonomischer<br />

Liberalisierung <strong>und</strong> schließlich durch die mit <strong>der</strong> Wirtschaftskrise<br />

von 1873 beschleunigt einsetzende Formierung des organisierten <strong>und</strong><br />

monopolistischen Kapitalismus. Parallel dazu vollziehen sich Aufschwung,<br />

Spaltung <strong>und</strong> Zerfall <strong>der</strong> Liberalen, gipfelnd in <strong>der</strong> nach<br />

1879 endgültig beschworenen konservativ-agrarisch-schwerindustriellen<br />

Solidarität. In <strong>der</strong> liberalen Prosperitätsphase nach 1850 war die<br />

Reichsgründung zur Vereinheitlichung <strong>und</strong> Erweiterung des kapitalistischen<br />

Markts eine zwingende Notwendigkeit geworden. Mit <strong>der</strong><br />

1879 zustande gekommenen Einigung über die Schutzzölle erhielt das

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!