Die Deutschlandberichterstattung der Vie Intellectuelle (1928 - 1940 ...
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Deutschland schon deshalb zuwi<strong>der</strong>laufen, weil er mit Verzicht auf die territoriale<br />
Revision im Osten verbunden wäre. Deutschland will keine europäische Gemeinsamkeit<br />
und Frankreich im Grunde auch nicht, denn Deutschland will nicht auf die<br />
Revision und Frankreich nicht auf die Durchsetzung seiner For<strong>der</strong>ungen verzichten.<br />
Insofern ist <strong>der</strong> deutsche Vorschlag für ein Pan-Europa beschwichtigend und nicht<br />
ernst gemeint.<br />
In dem Zusammenhang gibt <strong>der</strong> Deutsche dem Franzosen noch zu verstehen, daß das<br />
„cartesianische Europa“, wie es sich die Franzosen vorstellen, unmöglich sei. Warum<br />
könne man nicht ein „hegelianisches Europa“ probieren? 1<br />
Auf diesen Vorschlag reagiert <strong>der</strong> Franzose mit Entsetzen:<br />
C’est un saut dans l’inconnu que vous nous demandez là, une aventure affreusement<br />
dangereuse et dont nous pouvons revenir mutilés et meurtris... si nous<br />
en revenons. Pourquoi vouloir nous entraîner dans votre sarabande infernale?<br />
Pourquoi nous fasciner ainsi? La France est saine encore, elle n’est pas comme<br />
vous rongée de cancers politiques et sociaux. Vous voulez que nous risquions<br />
pour vous non seulement notre avoir, mais notre vie même, tout ce patrimoine<br />
de culture équilibrée, d’harmonieuse splendeur dont nous vivons. Pourquoi<br />
nous empêcher de cultiver en paix notre jardin? 2<br />
Wie man sieht, kann das Deutschlandbild nicht negativer und die französische<br />
Selbsteinschätzung nicht höher sein. Aber das glorifizierende Selbstbildnis, das <strong>Vie</strong><br />
int. entwirft, trügt: 1933 geht Frankreich dem Ende <strong>der</strong> wirtschaftlichen und politischen<br />
Stabilität entgegen. <strong>Die</strong> Wirtschaftslage verschlechtert sich zusehends. Das<br />
Land leidet unter häufigen Regierungswechseln und zahlreichen Krisen, ausgelöst<br />
von politischer und finanzieller Korruption. Das Vertrauen zum Regime wird schwächer.<br />
<strong>Die</strong> Rechte beginnt, den Parlamentarismus anzufechten. <strong>Die</strong> Erscheinungen<br />
sind denen in <strong>der</strong> Weimarer Republik nicht unähnlich. 3 Das Bild, das <strong>der</strong> Anonymus<br />
in <strong>Vie</strong> int. von Frankreich entwirft, hat nichts mehr mit <strong>der</strong> Wirklichkeit zu tun.<br />
<strong>Die</strong> gnadenlosen Urteile, die <strong>der</strong> Deutsche und <strong>der</strong> Franzose über den an<strong>der</strong>en fällen,<br />
darf man auch nicht isoliert betrachten, son<strong>der</strong>n muß sie in dem Kontext sehen, in<br />
dem sie hier gebildet werden. Deutschland wird als Bedrohung empfunden: Mit den<br />
zurückbehaltenen Reparationszahlungen versucht es aus französischer Sicht, seine<br />
Wirtschaft in Schwung zu bringen, aufzurüsten und seinen Machtanspruch in Europa<br />
auszudehnen. Mit den Deutschen wollen die Franzosen nichts zu tun haben. Man hat<br />
kein Vertrauen in sie - gewünschte Kredite zahlen sie wahrscheinlich nicht zurück.<br />
1 <strong>Vie</strong> int., 10.10.1933, S. 91. Descartes Bedeutung für die Philosophie liegt u.a. in dem strengen Rationalismus,<br />
<strong>der</strong> seit ihm das europäische Denken beherrscht. Hingegen sieht Hegel den Geist als die<br />
Wahrheit alles Wirklichen an (Idealismus). Er ist die absolute Weltvernunft. Denken und Sein ist für<br />
Hegel dasselbe. Er prägt eine Philosophie des Geistes.<br />
2 <strong>Vie</strong> int., 10.10.1933, S. 91<br />
3 Zur wirtschaftlichen, innen- und gesellschaftspolitischen Situation Frankreichs, vgl. die Ausführungen<br />
und Fußnoten im Kapitel: „Außenpolitik“. Auch: Bloch, a.a.O., S. 380-387; Duroselle, a.a.O., S.<br />
79-82, 87, 88, 213 f; Poidevin/Bariéty, a.a.O., S. 379<br />
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