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Die Deutschlandberichterstattung der Vie Intellectuelle (1928 - 1940 ...

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uch bzw. das Anzweifeln <strong>der</strong> geistigen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen<br />

Grundlagen, auf denen Europa seit Jahrhun<strong>der</strong>ten beruht. 1<br />

<strong>Vie</strong> int. schreibt, daß die Deutschen unter „Kultur“ und die Franzosen unter „civilisation“<br />

einen „kollektiven Glauben an eine Ordnung und Lebensweise verstehen, die<br />

Individuen so miteinan<strong>der</strong> verbinden, daß sie eine Gemeinschaft bilden“. 2 <strong>Die</strong> Auflösung<br />

dieser kollektiven Werte seit 1914 beobachtet <strong>der</strong> französische Deutschlandberichterstatter<br />

Pierre Viénot. 3 Aber we<strong>der</strong> er noch sein Rezensent Garreau nennen den<br />

Beginn des Ersten Weltkriegs als eine <strong>der</strong> Ursachen für die Entwertung des geistigen<br />

und materiellen Besitzstandes.<br />

Ein weiterer Aspekt des Gefühls <strong>der</strong> „incertitudes“, in dem Viénot die Deutschen<br />

sieht, ist die moralische Revolution, die zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts von <strong>der</strong> Jugendbewegung<br />

<strong>der</strong> „Wan<strong>der</strong>vögel“ eingeleitet wurde. Der Leser erfährt, daß sie sich<br />

gegen alle Konformismen auflehnte, gegen Autorität und Tyrannei des Kaiserstaates<br />

und gegen die Unterdrückung des Proletariats. Mittlerweile, so stellt <strong>der</strong> Autor fest,<br />

habe sie an Ursprünglichkeit verloren, aber sie habe zum Umsturz <strong>der</strong> sittlichen<br />

Werte beigetragen. Ihre Mitglie<strong>der</strong> würden einen „mystischen Gemeinschaftskult“<br />

pflegen, die sozialen Beziehungen vertiefen und Geld sowie persönliche Bestrebungen<br />

von sich weisen. Sie erteilten den sexuellen Schranken und <strong>der</strong> christlichen Moral<br />

des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts eine Absage, ohne jedoch einer „Welle <strong>der</strong> Immoralität“ anheimzufallen.<br />

4<br />

<strong>Die</strong>ser Gesichtspunkt <strong>der</strong> Hinwendung zum Gemeinschaftsdenken wird weiter unten<br />

in einem an<strong>der</strong>en Zusammenhang wie<strong>der</strong> auftauchen, wenn es darum geht, die aus<br />

französischer Sicht existierende Vorherbestimmtheit des deutschen Wesens für die<br />

nationalsozialistische Gesinnung zu begründen.<br />

<strong>Die</strong> Deutschen werden die Krise überstehen, weil sie an ihre Rasse glauben. So sieht<br />

es Viénot. 5 Insofern sei das Hingezogensein zur Gemeinschaft nicht ein Zeichen von<br />

Unsicherheit. Das Bedürfnis, Deutscher zu sein, sei vielmehr moralischer Natur. 6<br />

Darin, daß Gemeinschaftsgeist die Deutschen kennzeichnet, sind sich alle Autoren<br />

einig. Aber noch an<strong>der</strong>e Merkmale geben Aufschluß über das deutsche Wesen, z.B.<br />

Wirklichkeitsnähe. Sie habe sich aus den Kriegserfahrungen, aus <strong>der</strong> Weimarer Verfassung<br />

und dem philosophischen Denken entwickelt. 7 <strong>Die</strong> Deutschen zeigen Dynamik.<br />

Sie passen sich den ständig wechselnden Lebensumständen an. 8 Sie sind aber<br />

1 <strong>Vie</strong> int., Jan.-März 1932, S. 136<br />

2 a.a.O.<br />

3 a.a.O. Vgl. auch: Dröge, Christoph: Pierre Viénots „deutsche Ungewißheiten“. Aktuelle Lektüre<br />

eines Buches, das Geschichte wurde; in: Dokumente, 1, 1990, S. 40-46. Und Bock, H. M.: Französische<br />

Intellektuelle vor den „deutschen Ungewißheiten“ <strong>der</strong> Zwischenkriegszeit, in: Lendemains,<br />

XVII, 1992, S. 16-75.<br />

4 <strong>Vie</strong> int., a.a.O., S. 138<br />

5 a.a.O., S. 140<br />

6 a.a.O.<br />

7 <strong>Vie</strong> int., Juli-Sept. 1931, S. 269<br />

8 a.a.O., Jan.-März 1932, S. 141<br />

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