Die Deutschlandberichterstattung der Vie Intellectuelle (1928 - 1940 ...
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dennoch an seiner England-Treue festhält. Da er politisch nicht kurzsichtig ist und<br />
die deutsche Gefahr klar erkennt, läßt sich seine Anglophilie nur mit dem unbedingten<br />
Wunsch nach Frieden erklären. Das gibt er auch dem Leser zu verstehen. Er<br />
beugt sich <strong>der</strong> englischen Anti-Frankreichpolitik, er entschuldigt sie sogar, indem er<br />
den immer wie<strong>der</strong>kehrenden Wunsch äußert, es möge den Englän<strong>der</strong>n gelingen,<br />
Deutschland im Zaum zu halten. 1 Wie ungleichgewichtig die französisch-britischen<br />
Beziehungen sind, erkennt man am Sprachgebrauch: Tolédano bezeichnet die Englän<strong>der</strong><br />
als „nos amis“ 2 , während diese Frankreich gegenüber eine „politique de<br />
bascule“ 3 betreiben.<br />
Schon zu diesem Zeitpunkt kann man erkennen, daß Tolédano einen Meinungsumschwung<br />
vollzogen hat. Er ist <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> bis Februar 1938 am häufigsten über die<br />
deutsche Außenpolitik schreibt, weshalb die Vermutung naheliegt, daß seine Meinung<br />
<strong>der</strong> <strong>der</strong> Redaktion entspricht. Bis 1933 vertritt er eine Politik <strong>der</strong> Stärke und<br />
predigt den Präventivkrieg gegen Deutschland. Nun erweist er sich als Fürsprecher<br />
<strong>der</strong> sehr passiven französischen England- und Deutschlandpolitik. Er sagt, die eine<br />
sei von einem gebeugten Rücken England gegenüber und die an<strong>der</strong>e von Resignation<br />
gegenüber Deutschland gekennzeichnet. <strong>Die</strong>se Haltung wirkt deshalb so befremdlich,<br />
weil Tolédano sie wi<strong>der</strong> besseres Wissen einnimmt: er schätzt Deutschlands Expansionswillen<br />
und sein Machtpotential vollkommen richtig ein, und er unterwirft sich<br />
dem germanophilen England, von dem er weiß, daß es Frankreich seit Abschluß des<br />
Versailler Vertrags wirtschaftlich und politisch ständig in den Rücken fällt. Dennoch<br />
ruft er als bedeutendster außenpolitischer Meinungsmacher <strong>der</strong> <strong>Vie</strong> int. nicht dazu<br />
auf, diesen beiden aus seiner Sicht gegen Frankreich komplottierenden Staaten energisch<br />
entgegenzutreten.<br />
Es ist tatsächlich dieser bedingungslose Pazifismus, <strong>der</strong> dann auch die Nie<strong>der</strong>lage<br />
Frankreichs vorbereitet. Ihn teilt die <strong>Vie</strong> int. mit vielen Franzosen, denen die Schrekken<br />
des ersten Weltkrieges noch in Erinnerung sind. Es handelt sich bei dieser Einstellung<br />
um eine Art Neo-Pazifismus, in den die politische Rechte insgesamt ab<br />
1935/36 verfällt. Der Pazifismus war bisher immer eine Domäne <strong>der</strong> Linken gewesen.<br />
Nun sehen letztere aber wegen <strong>der</strong> wachsenden deutschen Bedrohung die Notwendigkeit<br />
einer nationalen Verteidigung. Begünstigt wird <strong>der</strong> Gesinnungswandel<br />
<strong>der</strong> Linken durch die Absegnung <strong>der</strong> französischen Verteidigungsmaßnahmen durch<br />
Stalin nach <strong>der</strong> Unterzeichnung des russisch-französischen Defensivpaktes Anfang<br />
Mai 1935. 4<br />
Tolédano verteidigt denn auch die Regierung Laval. Seiner Meinung nach ist sie<br />
vermittelnd und versöhnlich. 5 Er befürwortet ihre Bündnisse mit Rußland (eine seiner<br />
ursprünglich konservativen Grundtendenz konträre Haltung) und Italien, weil es gel-<br />
1 <strong>Vie</strong> int., 25.6.1935, S. 503<br />
2 a.a.O., S. 499<br />
3 a.a.O., S. 504<br />
4 vgl hierzu: Jurt, Joseph: Historischer Überblick, in: Kohut, Karl (Hrsg.): Literatur <strong>der</strong> Résistance und<br />
Kollaboration in Frankreich, Wiesbaden, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, Tübingen<br />
1982, S. 33<br />
5 <strong>Vie</strong> int., 25.9.1935, S. 683, 684, 685<br />
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