Die Deutschlandberichterstattung der Vie Intellectuelle (1928 - 1940 ...
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Fast zeitgleich verfaßt Pitrou einen Kommentar über die neuen Erziehungsmethoden<br />
und ein Jahr später einen Artikel über die Lenkung <strong>der</strong> Kunst in Hitlerdeutschland. 1<br />
Dort wie hier ist seine Tonart aggressiv, kritisch und herablassend. <strong>Die</strong>se Haltung<br />
unterscheidet sich völlig von <strong>der</strong>, die er in Bezug auf das deutsche Militär einnimmt,<br />
das er bewun<strong>der</strong>t. Anfang 1938 scheint er sich dann ganz mit den Verän<strong>der</strong>ungen in<br />
Deutschland abgefunden zu haben. Er tendiert zu Akzeptanz und Anerkennung.<br />
<strong>Die</strong> Idee, <strong>der</strong> Nationalsozialismus habe seine Wurzeln bei Luther und seine Wiege in<br />
Preußen, taucht in <strong>der</strong> zeitgenössischen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Hitlerdeutschland<br />
häufiger auf. Auch <strong>Vie</strong> int.-Autoren greifen sie auf. 2<br />
So insistiert Pitrou auf <strong>der</strong> verbreiteten Vorstellung, daß Deutschland mal wie<strong>der</strong>,<br />
wie schon so oft, einen Rückfall in mystische Zeiten erlebt, daß „son mysticisme<br />
l’entraîne trop loin, le noie dans les ténèbres.” Und er sieht eine „Retour manifeste à<br />
la tradition mystique des Allemagnes.“ 3<br />
<strong>Die</strong>ser Anti-Intellektualismus suche Deutschland regelmäßig heim, und schon Kleist<br />
habe das makabre Vergnügen am tödlichen Opfer gehabt. 4<br />
<strong>Die</strong> Ablehnung eines angeblichen Mystischen und Dunklen im deutschen Wesen ist<br />
in Frankreich bekanntlich nicht erst mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus<br />
entstanden, son<strong>der</strong>n reicht bis in die Zeit <strong>der</strong> Aufklärung zurück. Pitrou greift sie nur<br />
auf und dokumentiert so sein Unverständnis und seine Distanz dem deutschen Nachbarn<br />
gegenüber.<br />
François Perroux 5 bescheinigt dem nationalsozialistischen Staat Größe und Elend. 6<br />
Größe, weil er Erfindungsgeist und Organisationstalent för<strong>der</strong>t und weil er Befehlshabern<br />
eine fast priesterliche Macht verleiht. 7 Perroux begrüßt auch die Annäherung<br />
von Staat und Volk, die <strong>der</strong> Nationalsozialismus bewirke. 8 Das Elend <strong>der</strong> Doktrin<br />
sei, daß sie übergeordnete Werte wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Mildtätigkeit<br />
mißachte. 9 <strong>Die</strong> Doktrin erhebe vielmehr die Begriffe Nation und Reich zum einzigen<br />
Gott. 10 <strong>Die</strong> negativen Seiten <strong>der</strong> Ideologie überwiegen so für ihn die positiven. Per-<br />
1 <strong>Vie</strong> int., 25.9.1936, S. 580-588; 10.10.1937, S. 144-152. Siehe hier Kapitel: „Kulturpolitik”.<br />
2 z.B. <strong>Vie</strong> int., 25.11.1932, S. 127-128; a.a.O., Aug./Sept. 1936, S. 39-41; Heitmann, a.a.O., S. 187-<br />
188; Merlio, Gilbert: „Les Germanistes français face au national-socialisme“, in: Les relations culturelles<br />
..., a.a.O. In Luthers Reformation sieht beson<strong>der</strong>s auch <strong>der</strong> Deutschlandkenner Edmond Vermeil<br />
den Schlüssel zum Verständnis des Nationalsozialismus.<br />
3 <strong>Vie</strong> int., 10.3.1937, S. 192<br />
4 a.a.O., S. 196<br />
5 1903-1987; damals Wirtschaftswissenschaftler an <strong>der</strong> Universität von Lyon, später in Paris und am<br />
Collège de France; Mitarbeiter u.a. bei <strong>der</strong> katholisch-liberalen Zeitschrift Esprit; schreibt am<br />
10.1.1939 in <strong>der</strong> <strong>Vie</strong> int. ebenso zweiwertig negativ und positiv über „Le Travail sous le régime hitlérien”;<br />
hier: Kapitel „Wirtschafts- und Sozialpolitik”.<br />
6 a.a.O., 10.3.1937, S. 223<br />
7 a.a.O., S. 225<br />
8 a.a.O., S. 227<br />
9 a.a.O., S. 229<br />
10 a.a.O., S. 230: Perroux erweist sich als einer <strong>der</strong> wenigen Franzosen, die Mein Kampf gelesen haben.<br />
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