Jahresgutachten 1991/92 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
Jahresgutachten 1991/92 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
Jahresgutachten 1991/92 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Drucksache 12/1618 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode<br />
Flankierung des Umstellllngsprozesses nicht noch<br />
zusätzlich verteuern. Das gemeinsame Ziel bei dieser<br />
Konzeption ist, alles ddran zu setzen, daß sich<br />
die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft<br />
möglichst rasch verbessert. Welche neue<br />
Wirtschaftsstruktur sich dalJei herausbildet, bleibt<br />
den l'vlarktkräften überlassen.<br />
Die andere Konzeption ist stärker erha1tungsorienhert.<br />
Sie hat zwar auch das Ziel einer Verbesserung<br />
der Wettbewerbsfähigkeit der neuen Bundesländer<br />
im Blick, sieht den Staat jedoch sowohl<br />
beim Abbau der alten als auch beim Aufbau der<br />
neuen Arbeitsplätze in einer lenkenden Rolle,<br />
nicht zuletzt, um die notwendige Anpassung für<br />
den einzelnen auf ein verträgliches Ivlaß zu begrenzen.<br />
Zu dieser Konzeption gehört, daß möglichst<br />
viele alte Arbeitsplätze erhalten werden, solange<br />
es an genügend neuen fehlt. In Kauf genommen<br />
wird dabei, daß der Staat oder die Versichertengemeinschaft<br />
bei den Löhnen zuzahlen müssen,<br />
was der t-.1arkt nicht hergibt, und daß ein Engagement<br />
des Staates bei der Sanierung nicht privatisierungsfähiger<br />
Altbetriebe die Treuhandanstalt<br />
möglicherweise zu einer Dauereinrichtung als<br />
staatliche Industrieholding macht.<br />
Die politische Führung kann nicht beiden Konzeptionen<br />
gleichzeitig folgen; sie muß sich für eine klar entscheiden.<br />
263. Am Anfang des Weges <strong>zur</strong> wirtschaftlichen Einheit<br />
Deutschlands wies die wachstumsorientierte<br />
Konzeption die wirtschaftspolitische Richtung. Die<br />
Rahmenbedingungen für das lnvestieren in den<br />
neuen Bundesländern zu verbessern, stand im Vordergrund;<br />
die Sicherung des sozialen Netzes sollte<br />
den notwendigen Umstellungsprozeß flankieren, ihn<br />
so fördern und nicht blockieren. Ivlit dem Ausmaß des<br />
Umstellungsbedarfs nahmen jedoch die Forderungen<br />
zu, diesen einzudämmen, und mit der Lautstärke solcher<br />
Forderungen stieg die Bereitschaft der Politik,<br />
dem nachzugeben. Das immer stärkere Drängen auf<br />
umfangreiche Sanierungsprogramme für Altbetriebe<br />
der Treuhandanstalt, die keinen Käufer finden, steht<br />
für das eine, die flächendeckende Errichtung sogenannter<br />
Beschäftigungsgesellschaften für das andere.<br />
Mehr und mehr überlagern somit Elemente der erhaltungsorientierten<br />
Konzeption die anfängliche Wachstumsorientierung.<br />
264. Die erhaltungsorientierte Konzeption mutet<br />
den t-.'1enschen in den neuen Bundesländern kurzfristig<br />
weniger Härten zu, mittelfristig aber um so größere,<br />
und macht sie zudem länger von Hilfe aus den<br />
alten Bundesländern abhängig. Die wachstumsorientierte<br />
Konzeption hingegen stellt kurzfristig zwar höhere<br />
Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit und<br />
Anpassungsbereitschaft, verspricht dafür aber ein rascheres<br />
Aufholen und eine Angleichung der Lebensverhältnisse<br />
in Ost und West auf einem höheren Niveau<br />
der realen Einkommen. Das sollte der politischen<br />
Führung Anlaß geben, die wachstumsorientierte Konzeption<br />
wieder zum erklärten Leitbild für den Neuaufbau<br />
der ostdeutschen Wirtschaft zu nehmen und diese<br />
Entscheidung allen auch begreiflich zu machen. Die<br />
illusion, daß schneller Aufbau und die Vermeidung<br />
von Anpassungshärten gleichzeitig möglich seien,<br />
sollte nicht länger genährt werden.<br />
265. Auch bei konsequenter Wachstumsorientierung<br />
läßt sich die grundlegende Erneuenmg der ostdeutschen<br />
Wirtschaft, die nach mehr als vierzig Jahren<br />
des Sozialismus notwendig ist, nicht binnen zwei,<br />
drei Jahren schaffen. Die Wirtschaftspolitik muß sich<br />
also darauf einstellen, daß die neuen Bundesländer<br />
noch für geraume Zeit auf einen umfangreichen Mitteltransfer<br />
aus den alten Bundesländern angewiesen<br />
sein werden.<br />
Um so mehr kommt es darauf an, die Wachstumskraft<br />
in den alten Bundesländern zu erhalten und die Stabilität<br />
des Geldwertes <strong>zur</strong>ückzugewinnen. Daß dies<br />
<strong>1991</strong> gebührend im Blick gewesen wäre, kann man<br />
nicht sagen. Statt die finanzpolitischen Weichen umzustellen<br />
- weniger dringliche Staatsausgaben zu<br />
verschieben und altgewohnte Subventionen einschneidend<br />
zu kürzen -, wurde das meiste beim alten<br />
belassen und das, WdS in immer größerem Umfang an<br />
Finanzhilfen für die neuen Bundesländer aufzubringen<br />
war, am Kapitalmarkt aufgenommen. Zeichen,<br />
daß die Prioritäten in der neuen Bundesrepublik andere<br />
sein müssen als in der alten, wurden so weder für<br />
die einzelnen staatlichen Ebenen noch für die private<br />
Wirtschaft gesetzt. Das spiegelt sich auch in der Lohnpolitik<br />
wider. Lohnsteigerungen, die nicht nur im<br />
Osten Deutschlands der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit<br />
weit vorauseilen, sondern auch im Westen den<br />
Produktivitätszuwachs deutlich übertreffen, sprechen<br />
nicht für besondere Rücksichtnahme auf die gewandelte<br />
Situation.<br />
266. Die Folge ist, daß die Ansprüche, die im Osten<br />
und Westen Deutschlands von Staat, privaten Haushalten<br />
und Unternehmen geltend gemacht werden,<br />
mehr und mehr in Konflikt zueinander stehen und in<br />
der Summe über den gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum<br />
hinausgehen. Das zeigt sich in der<br />
beschleunigten Geldentwertung; es zeigt sich ferner<br />
im hohen Zins wie in der niedrigeren Bewertung der<br />
D-tv1ark, beides auch Zeichen dafür, daß an den Finanzmärkten<br />
Befürchtungen aufgekommen sind, die<br />
deutsche Wirtschaftspolitik werde mit den Herausforderungen<br />
nicht fertig werden. Die Wirtschaftspolitik<br />
sollte das ernst nehmen.<br />
267. Wo es der Staat in der Hand hat, gesamtwirtschaftlich<br />
unvertretbare Anspruche <strong>zur</strong>ückzuweisen,<br />
sollte er nicht länger damit zögern. Alte Privilegien<br />
nicht weiter gewähren und neue versagen, strenge<br />
Sparsamkeit bel allen Ausgaben walten lassen und<br />
fürs erste keine neuen Felder für öffentliche Leistungen<br />
erschließen, die Belastung mit Steuern wie Abgaben<br />
in Grenzen halten und weniger Kredit aufnehmen<br />
- wenn die politische Führung ihre Fachressorts auf<br />
diesen Kurs zwingt, wird es ihr auch leichter fallen,<br />
von den gesellschaftlichen Gruppen Maßhalten bei<br />
deren Ansprüchen zu verlangen, die Tarilvertragsparteien<br />
eingeschlossen.<br />
268. Je besser die Bundesrepublik die Aufgaben bewältigt,<br />
die sich mit Blick auf die wirtschaftliche und<br />
soziale Integration in Deutschland stellen, desto größer<br />
kann zugleich der Beitrag ausfallen, den sie für die<br />
weitere Integration in Europa zu leisten hat: Bei dem<br />
großen Gewicht, das der D-Mark im Europäischen<br />
168