Jahresgutachten 1991/92 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode Drucksache 12/1618<br />
I<br />
sehen Binnenmarkt an Gewicht. Die Öffnung der<br />
osteuropäischen Staaten <strong>zur</strong> Marktwirtschaft schafft<br />
für die Tarifpolitik ebenfalls neue Ralirnendaten, denn<br />
das Lohngefälle zwischen Deutschland und den östlichen<br />
Anrainerstaaten kann Produktionsverlagerungen<br />
nach dort auslösen. DieTarifpolitik muß sichmehr<br />
noch als bisher dem Wettbewerb der Standorte stellen.<br />
Gegenüber der kollektiven Regelungskomponente<br />
in der Tarifpolitik werden betriebsindividuelle<br />
Regelungen an Gewicht gewinnen müssen.<br />
3<strong>92</strong>. Schon im Vorfeld des europäischen Binnenmarktes<br />
hat die Kapitalmarktliberalisierung dazu geführt,<br />
daß Kapital in Europa mobiler geworden ist.<br />
Generell kommt hinzu, daß die Standortbindung der<br />
Unternehmen im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung<br />
ohnehin geringer geworden ist. Heute spielen<br />
bei Standortentscheidungen immer weniger natürliche<br />
Standortfaktoren (wie Rohstoffvorkommen) eine<br />
Rolle, sondern immer mehr gestaltbare Standortfaktoren<br />
(zum Beispiel Forschungs- und Innovationspotentiale),<br />
die nicht an einen bestimmten Ort oder an ein<br />
bestimmtes Land gebunden sind. Die Lohnpolitik muß<br />
sich stärker als bisher auf Kapitalbewegungen und<br />
potentielle Standortverlagerungen einstellen. Wenn<br />
die Unternehmen die tarifpolitischen Bedingungen in<br />
Deutschland im Vergleich zu denen im Ausland zunehmend<br />
als ungünstig einschätzen sollten, werden<br />
sie stärker als früher nach neuen Standorten außerhalb<br />
des Landes suchen. Die Tarifpolitik muß sich<br />
mehr denn je an den tarifvertraglichen Bedingungen<br />
anderer europäischer Länder messen lassen. Das gilt<br />
nicht nur für die Löhne, sondern für das ganze Spektrum<br />
tarifvertraglicher Regelungen und nicht zuletzt<br />
für das soziale Klima, in dem Tarifvereinbarungen<br />
geschlossen werden.<br />
393. Im Binnenmarkt werden Lohnbewegungen in<br />
den einzelnen Mitgliedsstaaten verstärkt auf die Beschäftigung<br />
dort durchwirken. Der Binnenmarkt intensiviert<br />
die Tendenz <strong>zur</strong> Regionalisierung der nationalen<br />
Volkswirtschaften in Europa. Vor allem dann,<br />
wenn die Wechselkursrelationen fixiert bleiben, werden<br />
sich Preisunterschiede bei überregional gehandelten,<br />
vergleichbaren Produkten am Binnenmarkt<br />
verringern und die Preisveränderungen weitgehend<br />
synchron verlaufen. Um so stärkere Effekte löst dann<br />
eine vom Trend in den anderen Ländern abweichende<br />
Lohnpolitik auf die Lohnkosten-Erlös-Relation<br />
aus. Überdurchschnittliche Lohnsteigerungen führen<br />
nicht mehr zu entsprechenden Preisbewegungen<br />
(oder Abwertungen), sondern verursachen einen<br />
überdurchschnittlichen Anstieg der Lohnkosten-Erlös-Relation.<br />
Dies wirkt auf die Beschäftigung weiter.<br />
Für die Tarifpolitik ergeben sich aus dem europäischen<br />
Binnenmarkt Konsequenzen. Löste eine expansive,<br />
über den Produktivitätsanstieg hinausgehende<br />
Lohnsteigerung bislang vornehmlich einen nationalen<br />
Stabilitätskonflikt aus (sofern sich die Zentralbank<br />
den Preiseffekten aus dem Lohnkostendruck widersetzte).<br />
kommt es nun zu einem Standortkonflikt:<br />
überdurchschnittliche Lohnsteigerungen verstärken<br />
die Tendenz zu Kapitalverlagerungen in andere Teilräume<br />
Europas. Der Standortkonflikt ist nicht weniger<br />
schmerzhaft als der Stabilitätskonflikt, bedeutet er<br />
doch auch einen - vermutlich auf lange Zeitunwiderruflichen<br />
- Verlust an Arbeitsplätzen. Die Orientierung<br />
der Tarifpolitik am Produktivitätsanstieg dient<br />
nicht mehr nur der Sicherung von Preisstabilität, sondern<br />
jetzt verstärkt auch der Standortsicherung.<br />
394. Es gibt Anzeichen dafür, daß sich die Tarifpolitik<br />
in einigen europäischen Partnerstaaten bereits im<br />
Vorfeld des Binnenmarktes auf die wachsende Standortkonkurrenz<br />
einstellt. Belege hierfür liefert die Entwicklung<br />
der Lohnstückkosten. In Ländern wie<br />
Frankreich, Dänemark und Irland war der Lohnstückkostenanstieg<br />
über viele Jahre hinweg viel stärker als<br />
in Deutschland. In den vergangenen zweibis drei Jahren<br />
hat 'sich das Bild gewandelt. Teilweise ist der<br />
Lohnstückkostenanstieg in diesen Ländern nun sogar<br />
niedriger. Die deutsche Tarifpolitik muß also ein gestiegenes<br />
Stabilitätsbewußtsein der Tarifpolitik im<br />
Ausland einkalkulieren. überhöhte Lohnsteigerungen<br />
werden weniger als früher im internationalen<br />
Wettbewerb dadurch verkraftet werden können, daß<br />
die Lohnkosten in anderen Ländern noch schneller<br />
steigen.<br />
395. Nicht nur der Lohn, auch die übrigen tarifvertraglichen<br />
Bestimmungen werden im wirtschaftlich<br />
vereinigten Europa auf dem Prüfstand stehen. Die<br />
Kapitalmobilität in Europa wird die produktionstechnischen<br />
Bedingungen in den einzelnen Branchen europaweit<br />
angleichen. Der Produktionsfaktor Arbeit<br />
würde dagegen bei deutlich unterschiedlichen tarifvertraglichen<br />
(neben staatlichen) Regulierungen inhomogen<br />
bleiben und daher für die Standortentscheidung<br />
der Unternehmen an Gewicht gewinnen. In allen<br />
europäischen Staaten gibt es umfangreiche Regulierungen<br />
des Arbeitsmarktes. Wie die einzelnen Regulierungen<br />
in ihrer Bündelung auf die Standortentscheidung<br />
der Investoren wirken, läßt sich im vorhinein<br />
kaum abschätzen. Hier muß pragmatisch aus der<br />
täglichen Erfahrung von Investitionsentscheidungen<br />
heraus abgeleitet werden, welche Regulierungen und<br />
welche Mischungen von Regulierungen standortfeindlich<br />
oder standortfreundlich sind. Mit dem Übergang<br />
zum europäischen Arbeitsmarkt sollten die Tarifvertragsparteien<br />
offen werden für eine mögliche<br />
Revision bisheriger tarifvertraglicher Regelungen.<br />
Das starre Festhalten an bisherigen Regelungen<br />
müßte sich schädlich auswirken.<br />
396. Die Tarifpolitik wird unter dem Druck des europäischen<br />
Standortwettbewerbs stärker als bisher nach<br />
Wegen suchen müssen, die eine Individualisierung<br />
der Arbeitsverhältnisse ermöglichen. Eine individualisierte,<br />
betriebsnähere Tarifpolitik soll dazu beitragen,<br />
daß sich die Unternehmen und Arbeitnehmer in<br />
einem Strukturwandel bewähren, der von der weltwirtschaftlichen<br />
Entwicklung geprägt wird (JG 88<br />
Ziffer 345).<br />
rvtit der Loslösung der individuellen Arbeitszeiten von<br />
den Betriebslaufzeiten und der Einführung flexiblerer<br />
Produktionstechniken wird aus der Sicht der Unternehmen<br />
der flexible Einsatz der Arbeitskräfte möglich.<br />
Auch die Arbeitnehmer wollen inuner weniger in<br />
das starre Korsett von "Nonnalarbeitsverhältnissen"<br />
gezwängt werden. Sie bevorzugen hinsichtlich der<br />
Dauer und der zeitlichen Verteilung ihrer Arbeitszeit<br />
individuelle Lösungen. Da mit der Individualisierung<br />
Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Ar-<br />
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