Jahresgutachten 1991/92 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Drucksache 12/1618 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode<br />
kommen. So stand im Zeitraum 1985 bis 1989 einem<br />
Produktivitätsanstieg von durchschnittlich 2,2 vH ein<br />
Reallohnanstieg von durchschnittlich 2,4 vH gegenüber.<br />
Dies wurde bei einer Tariflohnsteigerungsrate<br />
erreicht, die mit einem Wert von durchschnittlich<br />
koapp 3,7 vH den Rahmen der Produktivitätsorientierung<br />
einhielt.<br />
386. Die Arbeitnehmer könnten Reallohneinbußen<br />
für den Fall befürchten, daß sich der konjunkturelle<br />
Nachfragesog im nächsten Jahr wider Erwarten nicht<br />
reduziert und der Preisauftrieb - dann nicht von den<br />
Löhnen, sondern von der Nachfrage her gestützt <br />
weitergeht. Dieses RIsiko besteht. Um die Möglichkeit<br />
einer dynamischeren als der prognostizierten Wirtschaftsentwicklung<br />
zu berücksichtigen, hat der Sachverständigenrat<br />
dafür plädiert, Tariflohnanhebungen<br />
mit ertragsabhäogigen Lohnanhebungen zu verknüpfen<br />
(JG 89 Ziffem3551f.). Die Sorgen um den richtigen<br />
Kurs der Tarifpolitik wären heute geringer, wenn es<br />
nach dem Auslaufen der mehrjährigen Tarifverträge<br />
erneut zu mehrjährigen Abschlüssen gekommen<br />
wäre, in die ertragsabhängige Lohnkomponenten eingearbeitet<br />
worden wären. Sowohl von den Vertretern<br />
der Arbeitgeber als auch denen der Gewerkschaften<br />
werden derartige Vorschläge weiterhin abgelehnt.<br />
Dies ist zu bedauern.<br />
Abwanderungen: ein Ausgleichsmechanismus<br />
387. Der Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern<br />
wird auf lange Sicht mit dem in den alten Bundesländern<br />
zusammenwachsen. Nominale Entlohnungsunterschiede<br />
zwischen Ost und West für gleich qualifizierte<br />
Arbeit auf Arbeitsplätzen mit vergleichbarer<br />
Produktivität werden sich gegenüber dem heutigen<br />
Stand deutlich verringern. Dafür sorgen in den neuen<br />
Bundesläodem die Kapttalbildung, die Verbesserung<br />
der Produktqualität, die Entwtcklung wettbewerbsfähiger<br />
Produkte und die effiziente Organisation der<br />
Unternehmen. Alles das verbessert die wirtschaftliche<br />
Basis für die Angleichung der Einkommen. Zum Ausgleich<br />
der Entlohnungsunterschiede werden aber<br />
auch Abwanderungen aus den neuen Bundesländern<br />
beitragen.<br />
388. Abwanderungenwerden heute zumeist als eine<br />
Gefahr für den wirtschaftlichen Neuaufbau in den<br />
neuen Bundesländern angesehen. Volkswirtschaftlich<br />
problematisch sind Abwanderungen dort, wo sie<br />
die Fortführung oder Ansiedlung von Unternehmen<br />
verhindern, weil es in einer Region generell an Arbeitskräften<br />
fehlt oder weil die Qualifikationsstruktur<br />
der Arbeitnehmer nicht den Anforderungen des lokalen<br />
Arbeitsmarktes entspricht. Die angemessene tarifpolitische<br />
Reaktion auf das Problem der Abwanderungen<br />
besteht nicht in hohen allgemeinen LOhnsteigerungen,<br />
sondern in einer differenzierenden Lohnentwicklung.<br />
In Regionen mit aufkommendem ArbeitskräItemangel<br />
sind überdurchschnittliche Entlohnungen<br />
ebenso angebracht wie für Arbeitnehmer mit besonders<br />
gefragten Qualitäten.<br />
Hohe allgemeine Lohnsteigerungen würden Abwanderungstendenzen<br />
sogar verstärken. Kommt es nämlich<br />
durch hohen Lohnkostendruck verstärkt zu Ent-<br />
202<br />
lassungen und werden dadurch Neuansiedlungen<br />
von Betrieben behindert, beeinträchtigt gerade dies<br />
die wirtschaftlichen Perspektiven für die Menschenin<br />
einer Region und veranlaßt sie zu Abwanderungen.<br />
389. Die wirtschaftspolitische Bewertung der Abwanderung<br />
ist schwierig: Abwanderungen sind für<br />
die wirtschaftliche EntwicklungIndenneuen Bundesläodern<br />
zwar nachteilig, aber wahrscheinlich unumgänglich,<br />
um Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage<br />
einander anzugleichen. Ende <strong>1991</strong> werden in den<br />
neuen Bundesländern nach unseren Schätzungen<br />
koapp 3 Mitlionen Erwerbspersonen faktisch keiner<br />
Erwerbstätigkeit nachgehen (Ziffer 153). Hlnzu<strong>zur</strong>echnen<br />
sind Arbeitskräfte, die In den Betrieben auf<br />
Arbeitsplätzen beschäftigt sind, die zeitweilig noch<br />
durch Subventionen erhalten, früher oder später jedoch<br />
abgebaut werden. Die Anzahl dieser Arbeitsplätze<br />
ist jedoch nicht bekannt.<br />
Der mittelfristig zu erwartende Wirtschaftsaufschwung<br />
in den neuen Bundesländern wird die offene<br />
und verdeckte Arbeitslosigkeit abschmelzen lassen.<br />
Doch muß es aus beutiger Sicht als wahrscheinlich<br />
gelten, daß das Problem der Beschältigungslosigkeit<br />
damit allein nicht gelöstwerdenkann. Unterstellt man<br />
beispielsweise, daß die Beschäftigung in den neuen<br />
Bundesländern mit der gleichen Rate wächst wie in<br />
der ersten Hälfte der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik<br />
(knapp 3 vH), so wird In fünf Jahren - unveräoderte<br />
demographische Verhältnisse unterstellt <br />
nur ein gutes Viertel der heute knapp 3 Millionen faktisch<br />
Arbeitslosen einen Arbeitsplatz erhalten haben;<br />
der größere Teil bleibt erwerbslos.<br />
Man mag die Beschäftigungsdynamik giinstiger einschätzen;<br />
aber realistisch bleibt die These, daß In den<br />
neuen Bundesländern auf Dauer ein überangebot an<br />
Arbeitskräften erhalten bliebe, wenn die Anzahl der<br />
Erwerbspersonen nicht durch demographische Veränderungen,<br />
durch Änderungen im Erwerbsverhalten,<br />
aber eben auch durch Abwanderung verringert<br />
würde.<br />
390. Zuwanderungen In die alten Bundesländer setzen<br />
dort unter Umständen neue Daten für die Lohnentwicklung.<br />
Damit die Integration der Zuwanderer<br />
gelingt, werden die Lohnsteigerungsraten auf mittlere<br />
Sicht niedriger sein, als sie es sonst wären. Wie stark<br />
die Lohn<strong>zur</strong>ückhaltung sein muß, häogt vom Ausmaß<br />
der Zuwanderung und der Flexibilität des Beschälligungssystems<br />
ab. Die vergangenen beiden Jahre mit<br />
einer Ausweitung der Erwerbstätigkeit, die vor einigen<br />
Jahren nur von wenigen für realisierbar gehalten<br />
worden wäre, zeigen, daß die Aufnahmefähigkeit des<br />
Arbeitsmarktes bei guter Konjunktur auch bei den<br />
gegebenen Löhnen nicht als gering eingeschätzt werden<br />
muß.<br />
Neue Anforderungen an die Tarifpolitik durch die<br />
wirtschaftliche Vereinigung Europas<br />
391. Tarifpolitische Regelungen gehören zu den<br />
wichtigen Bestimmungsfaktoren der internationalen<br />
Wettbewerbsfähigkeit einerVolkswirtschaft. Iminternationalen<br />
Wettbewerb gibt es keine unangreifbaren<br />
Positionen. Dieser Aspekt gewinnt mit dem europäi-