Jahresgutachten 1991/92 - Sachverständigenrat zur Begutachtung ...
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Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode Drucksache 12/1618<br />
ländern schätzungsweise 60 vH bis 65 vH des westdeutschen<br />
Niveaus, die effektiven Monatseinkommen<br />
Lagen im Frühjahr bei etwa 47 vH (Ziffern 158ff.).<br />
Ausgehend von diesem Niveau verfolgt die Tarifpolitik<br />
dort, wo Stufentarifverträge abgeschlossen sind.<br />
eine rasante Aufholstrategie. Die volle Angleichung<br />
der Tariflöhne an westdeutsches Niveau wird in der<br />
Regel his 1994 angestrebt. Bei den effektiven Löhnen<br />
würde die Angleichung allerdings erst später beendet<br />
sein. Daneben gibt es Tarifbereiche, in denen keine<br />
Stu[envereinbaIungen getroffen worden sind. Daß in<br />
diesen Bereichen in der Aneinanderreihung kürzer<br />
laufender Tarifabschlüsse faktisch auch eine Aufholstrategie<br />
verfolgt werden wird, ist wahrscheinlich. Die<br />
TariIvertragsparteien werden für Arbeitnehmer einer<br />
Branche schwerlich niedrige Lohnsteigerungen beschließen,<br />
wenn in den Branchen um sie herum westdeutschp<br />
Lohnniveaus die Orientierungsmarke für<br />
den Lohnanstieg darstellen.<br />
Bleiht es bei der lohnpolitischen Aufholstrategie, ist in<br />
den nächsten Jahren mit beträchtlichen Lohnanhebungen<br />
zu rechnen. Um die Tariflöhne von derzeit<br />
60 vB dps westdeutschen Niveaus bis 1994 anzugleichen,<br />
sind bei gleichzeitig weiter steigendem westdeutschen<br />
Bezugslohn (um beispielsweise 5 vB pro<br />
Jahr) jdhrliche Lohnsteigenmgsraten von 25 vH notwendig.<br />
Hinzu kommt, daß in diesem Zeitraum Sonderzahlungen<br />
wie Urlaubsgeld oder Jahresgratifikationen<br />
erhöht werden und die wöchentliche Arbeitszeit<br />
verkürzt werden wird.<br />
369. Lohnsteigerungen in diesem Umfang sind gesamtwirtschaftlich<br />
nur zu vertreten, wenn zwei Bedingungen<br />
erfüllt werden können. Erstens müßte es den<br />
ostdeutschen Unternehmen gelingen, den Wert der<br />
Produktionsleistung je Arbeitnehmer bis <strong>zur</strong> !vlitte des<br />
Jahrzehnts auf das Niveau ihrer Konkurrenten aus<br />
Westdeutschland und anderen Ländern anzuheben.<br />
N ur dann würde der angelegte Lohnanstieg nicht<br />
durch überhühte Lohnstückkosten die Wettbewerbsfähigkeit<br />
der ostdeutschen Unternehmen beeinträchtigen.<br />
Zweitens müßte diese Produktivitätsangleichung<br />
in so vielen alten und neu zu gründenden Unternehmen<br />
gelingen, daß zu den dann herrschenden<br />
Lohnstückkosten in den neuen Bundesländern ein hoher<br />
Beschäftigungsstand realisiert werden könnte.<br />
Angesichts des schlechten Zustands einer großen<br />
Zahl von Unternehmen - insbesondere der vielen<br />
nicht privatisierten Unternehmen im Eigentum der<br />
Treuhandanstalt - ist es unrealistisch anzunehmen,<br />
daß der ProduktivitätsfÜckstand der ostdeutschen Unternehmen<br />
über weite Bereiche schon bis <strong>zur</strong> t-..ütte<br />
des Jahrzehnts abgebaut werden kann. Dies begründet<br />
die Kritik an der lohnpolitischen Aufholstrategie.<br />
Die beabsichtigte Lohnentwicklung wird im ganzen<br />
gesehen den derzeitigen und für die nächsten Jahre<br />
'Zu erwartenden Leistungsmöglichkeiten der ostdeutschen<br />
Unternehmen nicht gerecht. Fehlentwicklungen<br />
sind absehbar: Die Arbeitslosigkeit wird zusätzlich<br />
erhöht; neue Arbeitsplätze entstehen in geringerem<br />
Umfang; die öffentlichen Haushalte und die SozialhaushaIte<br />
werden mit Folgekosten aus der höheren<br />
Arbeitslosigkeit und t-,/Iehrausgaben bei den an<br />
die Tariflöhne gebundenen staatlichen Leistungen<br />
(zum Beispiel Entlohnung von ABtvI-Beschäftigten)<br />
belastet; wo Arbeitsplätze gefährdet sind, wird der<br />
Ruf nach Fortführung und Erhöhung von - im Ergebnis<br />
den Strukturwandel hemmenden - Subventionen<br />
lauter werden.<br />
370. Ein Kurswechsel in der Tarifpolitik ist notwendig.<br />
Zwar geht es nicht darum, daß die ostdeutschen<br />
Arbeitnehmer das generelle Ziel aufgeben müßten, zu<br />
westdeutschen Lohnniveaus aufzuschließen; nach<br />
wie vor halten wir die Einschätzung für realistisch,<br />
daß sich in den neuen Bundesländern eine Wirtschaftsstruktur<br />
herausbilden wird, die an Wettbewerbsfähigkeit<br />
der westdeutschen nicht nachsteht<br />
und letztlich auch gleiche Löhne ermöglicht. Doch<br />
benötigt dieser Anpassungsprozeß Zeit. Es geht<br />
darum, in der Übergangszeit, bis die ostdeutscheWirtschaft<br />
zu einer wettbewerbsfähigen Struktur gefunden<br />
hat, die Lohnentwicklung in einem wirtschaftlich<br />
vertretbaren Rahmen zu halten.<br />
t-..Iaßstäbe hierfür liefert noch nicht - wie in Westdeutschland<br />
- die Entwicklung der Arbeitsproduktivität,<br />
sondern die Leistungskraft der Betriebe und<br />
Branchen. Die errechnete Produktivität ist als Maßstab<br />
unbrauchbar, weil die Wertschöpfung in hohem<br />
:tv'1aße durch Erfassungslücken und in der Bewertung<br />
durch Stützungsmaßnahmen (Subventionen, Exportbürgschaften,<br />
Uquiditätskredite) verzerrt ist. Immer<br />
noch stehen in vielen Altbetrieben weit mehr Arbeitskräfte<br />
auf der Lohnliste, alsfür die Produktion tatsächlich<br />
benötigt werden; die errechnete Produktivität<br />
sagt nichts darüber, wie hoch die dem Faktor Arbeit<br />
<strong>zur</strong>echenbare Wertschöpfung ist.<br />
Der Sachverständigenrat hat sich daher für die neuen<br />
Bundesländer vorerst gegen eine an Produktivitätskennziffern<br />
orientierte Lohnpolitik ausgesprochen<br />
und statt dessen eine an der sektoralen und betrieblichen<br />
"Leistungskraft" orientierte Lohnpolitik vorgeschlagen:<br />
"Ins Blickfeld zu rücken sind vor allem die<br />
Chancen der Branchen und Unternehmen, durch<br />
Neuentwicklung von marktfähigen Produkten, durch<br />
neue Produktionsverfahren und Managementmethoden,<br />
durch Qualifizierung der Arbeitnehmer und ihre<br />
Umgewöhnung auf marktwirtschaftliches Denken<br />
den Umstellungsprozeß zu bewältigen, der mit der<br />
Einführung marktwirtschaftlichen Wettbewerbs in<br />
der ehemaligen DDR notwendig geworden ist. Diese<br />
Chancen sind von Betrieb zu Betrieb sehr unterschiedlich;<br />
die Unterschiede lassen sich nicht allein<br />
mit der Pro-Kopf-Wertschöpfung erfassen" (JG 90<br />
Ziffer 410).<br />
371. tv1it diesem Vorschlag sollte nicht einem generellen<br />
Einfrieren der tariflichen Nominallöhne oder<br />
Senkungen der Reallöhne über Jahre hinaus das Wort<br />
geredet werden. Das würde die gewaltigen Arbeitsmarktprobleme<br />
der ostdeutschen Wirtschaft nicht lösen.<br />
Defizite in der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen<br />
Unternehmen, die auf eine veraltete Kapitalausstattung,<br />
unzulängliche Produkte, Ungeübtheit<br />
bei der Eroberung von Märkten <strong>zur</strong>ückzuführen sind,<br />
lassen sich durch niedrige Löhne nicht einfach überspielen.<br />
Die entscheidende Implikation ist vielmehr,<br />
daß differenzierte Lohnsteigerungen notwendig sind.<br />
Wo Unternehmen und Branchen in absehbarer Zeit in<br />
der Lage sind, ihre Leistungskraft rasch anzuheben,<br />
können die effektiven Löhne vergleichsweise hoch<br />
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